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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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Juwelen, wenn er sie ihr »Teechen gegen Schmerzen« zubereiten sah, wenn sie ihm versprach, etwas sehr Schönes zu spielen, wenn er nur eifrig lernte. Er sah sie wieder vor sich, wenn sie das Haus verließ, den weißen leichten Puder auf der gräulichen Haut, der große runde Ausschnitt, der den Hals mit den erbarmungswürdig pulsierenden Adern freigab. Die kleinen, flachen Mädchenschuhe, der Regenschirm, mit erschreckender Unbekümmertheit eingesetzt, wie ein Spazierstock. Sich zu entschuldigen für den Wunsch – nein, nein! –, sie möge endlich sterben. – Er erbebte, Schweiß brach ihm aus. Aber es ist nicht meine Schuld! Ach! Weggehen, ein Konzept für das Buch über Zivilrecht entwerfen, sich von jener schrecklichen Welt entfernen, die auf so abstoßende Weise intim und menschlich war.
    »Hier kommt also ›Sacre du printemps‹ …«, sagte die Cousine Isabel.
    Ja doch. Ich will den Frühling … Gott steh mir bei. Ich ersticke. Der lächerliche Frühling war sogar noch mehr Frühling und Freude.
    »Diese Musik ist wie eine blaue Rose«, sagte sie halb zu ihm gewandt und mit einem leicht boshaften Lächeln. Plötzlich zitterten in dem trockenen, faltigen Gesicht, ein Rinnsal in der Wüste, die beiden kleinen Brillanten an ihren welken Ohren, zwei kleine feuchte, glitzernde Tropfen. Oh, sie waren viel zu frisch und wollüstig … Die Alte war vermögend. Aber wenn sie diese Ohrringe anhatte, dann aus einem Grund, den er nie erfuhr: Sie selbst hatte die Steine gekauft, hatte sie zu Ohrringen verarbeiten lassen und trug sie wie zwei Gespenster unter ihrem ergrauten, struppigen Haar.
    Diese Musik ist wie eine blaue Rose, hatte sie im vollen Bewusstsein gesagt, dass nur sie das verstehen konnte. Aus Erfahrung wusste er, dass er jetzt nach der Bedeutung des Satzes fragen und ihr geduldig das Vergnügen gewähren müsste, zu antworten, während er sich auf die Unterlippe biss:
    »O ja, das kann ich dir erklären.«
    Diesmal aber fand dieses aufregende Spiel nicht statt. Er vermied es nur, zu der Alten hinzusehen und ihre Enttäuschung zu bemerken. Er erhob sich und klopfte an die Zimmertür seiner Verlobten.
    Sie saß am Fenster und nähte. Er machte die Tür zu, schloss ab und kniete vor ihr nieder. Er lehnte seinen Kopf an ihre Brust, und von neuem atmete er dieses laue, süßliche Parfum alter Rosen ein. Sie lächelte weiterhin, abwesend, fast geheimnisvoll, als hörte sie dem sanften Strömen eines Flusses in ihrer Brust zu.
    »Otávio, Otávio«, sagte sie mit ihrer süßen, fernen Stimme.
    Keiner der Bewohner dieses Hauses, weder die ledige Cousine noch Lídia, noch die Bediensteten lebten, dachte Otávio. Gar nicht wahr, entgegnete er sich selbst: Nur er war tot. Aber er machte weiter: Gespenster, Gespenster. Die fernen Stimmen, keine Erwartung, Glück.
    »Lídia«, sagte er, »verzeih.«
    »Aber was denn?«, fragte sie leicht erschrocken.
    »Alles.«
    Dunkel fühlte sie, dass sie zustimmen sollte, und schwieg. Otávio, Otávio. So viel einfacher, mit den anderen Menschen zu sprechen. Würde sie ihn nicht so sehr lieben, wie viel schwerer wäre es, all sein Unverständnis zu ertragen. Sie verstanden sich nur, wenn sie sich küssten, wenn Otávio so wie jetzt seinen Kopf an ihre Brust lehnte. Aber das Leben war länger, dachte sie erschrocken. Es würde Momente geben, wo sie ihm direkt ins Gesicht sehen würde, ohne dass ihre Hand seine ergreifen könnte. Und dann – lastende Stille. Er würde immer getrennt von ihr sein, und sie würden sich nur in jenen besonderen Augenblicken verständigen – in Stunden intensiven Lebens und in Stunden des drohenden Todes. Aber das war nicht genug, nicht genug … Das Leben zu zweit war eben gerade deswegen notwendig, um die anderen Augenblicke zu erleben, überlegte sie aufgeschreckt, angestrengt nachdenkend. An Otávio könnte sie nur die unentbehrlichsten Worte richten, als sei er ein vorbeieilender Gott. Wenn sie sich in einer dieser ausschweifenden, ziellosen Plaudereien verlor, die ihr so viel Vergnügen bereiteten, bemerkte sie seine Ungeduld oder doch sein übermäßig geduldiges, heldenhaftes Gesicht. Otávio, Otávio … Was tun? Wenn er sich ihr näherte, war es wie eine magische Berührung, die sie in ein wirklich lebendes Wesen verwandelte, jede Faser atmete mit Blut gefüllt. Oder aber er wühlte nichts in ihr auf. Er legte sie schlafen, als wäre er auf einfache, ruhige Weise erschienen, um sie vollkommener zu machen.
    Sie wusste, dass es sinnlos war,

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