Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
das sie wie ein leichter Kran nach oben hob. Dann der Geruch nach neuem Tuch, der strahlende, neugierige Blick eines Mannes, der sie durchdrang und, als hätte er im Dunkeln auf einen Knopf gedrückt, ihren ganzen Körper erleuchtete. Lange Muskelstränge durchliefen sie. Jeder Gedanke glitt durch diese polierten Stränge hinab, bis er dort unten an den Knöcheln erzitterte, wo das Fleisch zart war wie das eines Huhns.
Sie blieb auf der letzten Stufe stehen, die weit und gefahrlos war, und legte sacht ihre Handfläche auf das kalte, glatte Geländer. Und ohne zu wissen, warum, empfand sie ein plötzliches, fast schmerzhaftes Glücksgefühl, einen Stich im Herzen, als bestünde es aus einer weichen Masse, in die jemand seinen Finger hineingetaucht hatte und ihn sacht darin hin- und herdrehte. Warum nur? In einer schwachen, ablehnenden Geste hob sie die Hand. Sie wollte es gar nicht wissen. Aber nun war die Frage schon vor ihr aufgetaucht, und als absurde Antwort bot sich ihr das glänzende Geländer, das wie eine lackierte Schlange an einem Karnevalstag geschickt von oben heruntergeworfen worden war. Nur war kein Karneval, denn im Saal herrschte Schweigen, man konnte alles durch das Schweigen hindurch sehen. Die feuchten Reflexe der Lampen auf den Spiegeln, die Broschen der Damen und die Gürtelschnallen der Herren verständigten sich hin und wieder durch feine Lichtstrahlen mit dem Lüster.
Immer mehr verstand sie die Kulisse. Zwischen Männern und Frauen gab es keine harten Zwischenräume, alles ging weich ineinander über. Von irgendeinem unsichtbaren Heizkörper stieg feuchter, anregender Dampf auf. Wieder fühlte sie einen leichten Schmerz in ihrem Herzen, und sie lächelte mit gekrauster Nase, atmete schwach.
Dann eine kleine Ruhepause. Sie fand sich allmählich wieder in der Wirklichkeit ein, obwohl sie sich dagegen wehrte, erneut war ihr Körper gefühllos, stumpf und kräftig, wie ein seit langem lebendiges Ding. Sie nahm das Zimmer wahr, die Vorhänge winkten ihr ironisch zu, das stur unbewegliche, nutzlose Bett. Unruhig versuchte sie, sich an den oberen Treppenabsatz zu versetzen, um noch einmal herunterzusteigen. Sie sah sich gehen, konnte aber die zitternden Beine nicht mehr fühlen, auch den Schweiß in den Händen nicht. Da merkte sie, dass sie die Erinnerung ausgeschöpft hatte.
Sie wartete neben dem Bücherregal, wo sie etwas hatte holen wollen … was nur? Sie runzelte gleichgültig die Stirn. Was? Sie versuchte den Eindruck komisch zu finden, dass jetzt mitten in ihrem Kopf ein Loch war, aus dem man den Gedanken an das, was sie hatte holen wollen, herausgenommen hatte.
Sie beugte sich zur Tür und fragte laut, mit geschlossenen Augen:
»Was wolltest du noch mal, Otávio?«
»Das über Öffentliches Recht«, sagte er, und bevor er sich wieder seinem Heft zuwandte, warf er ihr flüchtig einen überraschten Blick zu.
Sie brachte ihm das Buch, geistesabwesend, bewegte sich träge. Er erwartete es mit ausgestreckter Hand, ohne den Kopf zu heben. Einige Schritte von ihm entfernt verharrte sie einen Augenblick, mit dem Buch in seine Richtung weisend. Aber Otávio bemerkte die Verzögerung nicht, und mit einem leichten Schulterzucken reichte sie es ihm.
Sie setzte sich in den nächsten Sessel, ohne es sich darin bequem zu machen, als müsste sie im nächsten Moment schon wieder aufstehen. Dann aber, als nichts geschah, lehnte sie sich zurück und entspannte sich, mit leerem Blick, ohne zu denken.
Otávio las weiter im Öffentlichen Recht, verweilte hin und wieder länger bei einer bestimmten Zeile und blätterte dann, ungeduldig seine Nägel beißend, schnell mehrere Seiten weiter. Bis er wieder innehielt und zerstreut mit der Zunge an den Zähnen entlangfuhr, während eine Hand zärtlich an den Augenbrauen zupfte. Irgendein Wort ließ ihn erstarren, seine Hand blieb in der Luft hängen, sein Mund stand offen wie bei einem toten Fisch. Plötzlich stieß er das Buch von sich. Mit gierigen, glänzenden Augen schrieb er hastig etwas in sein Heft, zögerte einen Augenblick, um geräuschvoll zu atmen, und schlug mit seinen Fingerknöcheln gegen die Zähne, eine Bewegung, die sie zusammenfahren ließ.
Was für ein Tier, dachte sie. Er hörte auf zu schreiben und sah sie entsetzt an, als hätte sie etwas nach ihm geworfen. Sie blickte ihn weiter kraftlos an, und Otávio rutschte auf seinem Stuhl hin und her und dachte nur daran, dass er nicht allein war. Schüchtern und verlegen lächelte er und
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