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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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Leicht überrascht öffnete sie die Augen und nahm ihren in beruhigendes Glücksgefühl getauchten Körper wahr. Sie litt nicht – aber wo war sie?
    »Joana … Joana …«, rief sie sich sachte, und fast unhörbar antwortete ihr Körper zögernd: Joana.
    Die Tage verstrichen, und sie wollte sich noch mehr finden. Sie rief sich jetzt laut, und es genügte ihr nicht, einfach zu atmen. Das Glücklichsein löschte sie aus, es löschte sie aus … Sie wollte sich endlich wieder fühlen, auch wenn es unter Schmerzen war. Aber sie tauchte immer tiefer unter. Morgen, schob sie vor sich her, morgen werde ich mich sehen. Der neue Tag brach jedoch durch ihre Oberfläche, leicht wie ein trockener Nachmittag, und kräuselte kaum ihre Nerven.
    Sie hatte sich nur noch nicht ans Schlafen gewöhnt. Schlafen war jede Nacht ein Abenteuer, aus der leichten Helligkeit, in der sie lebte, in immer dasselbe düstere, frische Geheimnis zu fallen, die Dunkelheit zu durchqueren. Zu sterben und wieder geboren zu werden.
    Ich werde also nie eine Leitlinie haben, dachte sie, Monate nach ihrer Hochzeit. Ich gleite von einer Wahrheit zur anderen, vergesse immer die vorige, bin immer unzufrieden. Ihr Leben bestand aus vollständigen kleinen Leben, aus ganzen, geschlossenen Kreisen, die sich voneinander absonderten. Nur dass Joana am Ende eines jeden, statt zu sterben und ein Leben auf einer anderen Ebene zu beginnen, auf einer anorganischen oder niederen organischen, immer wieder auf der menschlichen Ebene begann. Bloß die Grundtöne waren anders. Oder waren bloß die Intervalle anders und die Bassnoten ewig gleich?
    Es war immer vergebens, glücklich oder unglücklich gewesen zu sein. Und sogar geliebt zu haben. Kein Glück oder Unglück war so stark gewesen, dass es die Elemente ihrer Materie verwandelt und ihr einen einzigen Weg gezeigt hätte, wie es der wahre Weg sein musste. Ich beginne mich immer von neuem, öffne Lebenskreise und schließe sie, lege sie beiseite, wenn sie welk sind und angefüllt mit Vergangenheit. Warum sind sie so unabhängig voneinander, warum verschmelzen sie nicht zu einem Block und dienen mir als Fundament? Tatsächlich waren sie zu vollständig. Augenblicke, die so intensiv, so rot, so gedrängt in sich selbst waren, dass sie keiner Vergangenheit oder Zukunft bedurften, um zu existieren. Sie brachten ein Wissen mit, das nicht als Erfahrung nutzte – ein unmittelbares Wissen, mehr ein Gefühl als eine Beobachtung. Die dann entdeckte Wahrheit war so sehr Wahrheit, dass sie nur in ihrem Behältnis überdauern konnte, in der Tatsache selbst, die sie hervorgerufen hatte. So wahrhaftig, so unabwendbar, dass sie nur lebte in ihrer Eigenschaft als Urform. Ist der Moment des Lebens vorbei, erschöpft sich auch die entsprechende Wahrheit. Ich kann sie nicht formen, kann sie nicht als Inspiration für andere, ähnliche Augenblicke verwenden. Also bin ich zu nichts verpflichtet.
    Vielleicht hatte jedoch die Rechtfertigung ihres kurzlebigen Hochgefühls keinen anderen Wert, als ihr ein gewisses Vergnügen an Gedankengängen zu verschaffen wie zum Beispiel: Wenn ein Stein fällt, dann existiert dieser Stein, dieser Stein ist von irgendwo herabgefallen, dieser Stein … Sie irrte so viel.

Zweiter Teil

DIE EHE
    Joana erinnerte sich plötzlich, ohne Vorwarnung, an sich selbst, wie sie am oberen Treppenabsatz gestanden hatte. Sie wusste nicht, ob sie irgendwann einmal oben an einer Treppe gestanden hatte, den Blick nach unten auf viele geschäftige Menschen gerichtet, die in Satin gekleidet waren, große Fächer in den Händen hielten. Es war sogar sehr wahrscheinlich, dass sie das nie erlebt hatte. Die Fächer zum Beispiel hatten in ihrer Erinnerung keine Gestalt. Wenn sie an sie denken wollte, sah sie eigentlich keine Fächer, sondern schimmernde Flecken, die hin und her schwebten zwischen französischen Worten, die behutsam geflüstert wurden von geschürzten Lippen, so wie ein in die Ferne gehauchter Kuss. Der Fächer begann als Fächer und endete mit französischen Worten. Absurd. Also konnte es nicht sein.
    Aber dennoch wollte sich dieser Eindruck weiter vordrängen, als läge das Wichtigste jenseits der Treppe und der Fächer. Sie hielt einen Augenblick in ihren Bewegungen inne, und nur die Augen blickten rasch umher, auf der Suche nach dem Gefühl. Ach ja. Sie stieg die Marmortreppe hinab und fühlte unter den Fußsohlen die kalte Angst auszurutschen, in ihren Händen warmer Schweiß, um die Hüfte drückte sie ein Band,

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