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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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war die Vorbereitung darauf. Und als sie sich dem großen Feld näherte, wo das riesige runde Zelt leuchtete wie einer dieser kuppelförmigen Deckel, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt das beste Gericht auf dem Tisch verbergen, als sie an der Hand des Dienstmädchens näher kam, empfand sie Angst und Beklemmung und bebende Freude in ihrem Herzen, sie wollte umkehren, weglaufen. In dem Augenblick, als das Mädchen zu ihr sagte: Dein Vater hat mir Geld für Puffmais gegeben, blickte Joana erstaunt um sich. Unter der Mittagssonne schienen die Dinge verrückt geworden zu sein.
    Sie wusste, dass der Lehrer erkrankt war, dass seine Frau ihn verlassen hatte. Aber obwohl er gealtert war, fand sie ihn dicker vor, war sein Blick strahlend. Auch hatte sie zunächst befürchtet, dass die Szene ihres letzten Zusammentreffens, als sie sich erschrocken in die Pubertät geflüchtet hatte, den Besuch belasten und beide in Verlegenheit bringen würde, in demselben eigenartigen, dumpfen Wohnzimmer, wo jetzt der Staub über den Glanz gesiegt hatte.
    Der Lehrer hatte sie heiter und etwas zerstreut empfangen. Mit seinen tiefen Schatten unter den Augen glich er einer alten Fotografie. Er stellte Joana Fragen, doch sobald sie zu einer Antwort ansetzte, war er mit seiner Aufmerksamkeit woanders wie jemand, der jetzt endlich von dieser Verpflichtung entbunden war. Mehrmals unterbrach er sich und sah dabei aufmerksam auf die Uhr und den kleinen Tisch mit den Medikamenten. Sie blickte umher, und das Halbdunkel war feucht und erstickend. Der Lehrer war wie ein großer kastrierter Kater, der in seinem Keller herrschte.
    »Du kannst jetzt die Fenster öffnen«, sagte er. »Weißt du, ein wenig Dunkelheit und danach reichlich Luft; der ganze Organismus zehrt davon, wird lebendig. Wie bei einem vernachlässigten Kind. Wenn es alles bekommt, reagiert es plötzlich und blüht auf, manchmal mehr als andere.«
    Joana riss Türen und Fenster auf, und die kalte Luft drang mit einem heftigen Stoß triumphierend ins Zimmer. Dahinter kam durch die Tür ein wenig Sonne herein. Der Lehrer hatte den Kragen seines Schlafanzugs etwas weiter geöffnet und genoss den Wind.
    »So ist das«, erklärte er.
    Wie sie ihn so sah, fiel Joana auf, dass er nichts als ein dicker alter Mann in der Sonne war, sein schütteres Haar hielt der Zugluft nicht stand, der schwere Körper lag wie hingeworfen auf dem Stuhl. Und das Lächeln, mein Gott, ein Lächeln.
    Als es drei Uhr schlug, hielt er mitten im Satz inne und geriet plötzlich in Bewegung, zählte mit abgemessenen Gesten und wichtigem, gierigem Gesichtsausdruck zwanzig Tropfen aus einem Fläschchen in ein Glas Wasser. Er hob es auf Augenhöhe an, betrachtete es mit zusammengekniffenen Lippen, völlig versunken. Er trank die dunkle Flüssigkeit furchtlos und heftete dann seinen Blick auf das Glas, mit einer bitteren Grimasse und einem halben Lächeln, das sie nicht erklären konnte. Er stellte es auf den Tisch und klatschte in die Hände, rief damit nach dem Dienstboten, einem mageren, zerstreuten Burschen. Er wartete schweigend auf dessen Rückkehr, mit aufmerksamem Blick, als versuchte er in der Ferne etwas zu erlauschen. Erst als er das Gläschen ausgewaschen wiederbekommen, es gründlich untersucht und dann auf eine Untertasse gestellt hatte, seufzte er leicht:
    »Also, wovon haben wir doch gleich gesprochen?«
    Sie achtete weiterhin nicht auf ihre eigenen Worte, hatte ihn fest im Blick. Keiner seiner Gesichtszüge verriet, dass seine Frau ihn verlassen hatte. Flüchtig sah sie jene Figur wieder vor sich, die fast immer stumm geblieben war, jenes gleichmütige, beherrschte Gesicht, das sie so gefürchtet und gehasst hatte. Und obwohl diese andere sie immer noch abstieß, entdeckte Joana in ihrer Erinnerung überrascht, dass sie sich nicht nur damals, sondern vielleicht schon immer mit ihr verbunden gefühlt hatte, als hätten sie beide etwas Geheimes und Böses gemein.
    Nichts in seinem Gesicht verriet den Weggang seiner Frau. In seiner Haltung und seinem Blick lagen hingegen eine wie endlich erlangte Ruhe, ein Frieden, den Joana nie zuvor an ihm bemerkt hatte. Fast ängstlich erforschte sie ihn wie ein durch Regen angeschwollenes Gewässer, dessen Tiefe man jetzt unmöglich einschätzen konnte. Und da war sie gekommen, um ihm zuzuhören, seinen klaren Verstand wie einen Fixpunkt zu spüren!
    Sie hatte versucht, ihn zum Sprechen zu bringen:
    »Ein starker Mensch durchlebt größere Qualen als ein kranker.«
    Er

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