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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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streckte ihr über den Tisch die Hand entgegen. Sie beugte sich im Sessel nach vorn und gab ihm ihre Fingerspitzen. Otávio drückte sie schnell und lächelte dabei, und bevor sie dazu kam, ihren Arm zurückzuziehen, wandte er sich voller Ingrimm seinem Heft zu, sein Gesicht verschwand fast darin, während seine Hand eifrig weiterschrieb.
    Jetzt war er es, der etwas fühlte, dachte Joana. Und ganz plötzlich, vielleicht aus Neid, hasste sie ihn, ohne nachzudenken, mit einer so brutalen Gewalt, dass ihre Hände sich um die Armlehnen des Sessels klammerten und sie ihre Zähne zusammenbiss. Sie erschauerte kurz, wiederbelebt. In der Befürchtung, ihr Mann könnte ihren scharfen Blick bemerken, zwang sie sich dazu, ihn zu verbergen und so ihre heftigen Gefühle im Zaum zu halten.
    Es war seine Schuld, dachte sie kalt und lauerte auf eine neue Welle von Wut. Es war seine Schuld, es war seine Schuld. Seine Anwesenheit und mehr als seine Anwesenheit: zu wissen, dass er existierte, brachte sie um ihre Freiheit. Nur noch selten gelang es ihr jetzt, etwas zu fühlen, wie auf einer kurzen Flucht. Genau: Es war seine Schuld. Warum hatte sie das nur nicht vorher bemerkt?, fragte sie sich siegesgewiss. Er raubte ihr alles, alles. Und da der Satz noch schwach war, konzentrierte sie sich mit geschlossenen Augen darauf: alles! Da fühlte sie sich wohler, konnte klarer denken.
    Vor ihm hatte sie immer mit ausgebreiteten Händen dagestanden, und wie viele, oh, wie viele Überraschungen erlebte sie! Heftige Überraschungen, wie ein Strahl, süße Überraschungen, wie ein Regen kleiner Lichter … Jetzt war ihre Zeit ganz ihm gewidmet, und die Minuten, die ihr gehörten, empfand sie wie zugestanden, in kleine Eiswürfel unterteilt, die sie schnell hinunterschlucken musste, bevor sie schmolzen. Und dabei peitschte sie sich, um im Galopp zu laufen: Achtung, diese Zeit bedeutet Freiheit! Achtung, denk schnell, Achtung, finde dich schnell, Achtung … vorbei! Jetzt – erst später wieder, und wieder das Tablett mit den Eiswürfeln, und du stehst fasziniert davor und siehst, wie sie schon zu schmelzen anfangen.
    Dann kam er. Und endlich ruhte sie, mit einem Seufzer, schwer. – Aber sie wollte nicht ruhen! – Das Blut floss langsamer, in gezähmtem Rhythmus, wie ein Tier, das seine Runden abmisst, um in den Käfig zu passen.
    Sie erinnerte sich daran, als sie etwas holen wollte – was? ach ja, Öffentliches Recht – aus dem Regal oben an der Treppe, eine ganz unvermittelte Erinnerung, ganz frei, vielleicht sogar erfunden … Wie jung war sie doch damals noch. Klar sprudelndes Wasser, innen und außen. Sie sehnte sich nach diesem Gefühl, danach, wieder etwas zu empfinden. Sie sah ängstlich von einer Seite zur anderen, auf der Suche nach etwas. Aber alles dort war, wie es schon seit langem war. Alt. Ich werde ihn verlassen, kam ihr in den Sinn, zum ersten Mal. Sie öffnete die Augen, auf der Lauer nach sich selbst. Sie wusste, dass dieser Gedanke Folgen haben könnte. Wenigstens früher war es so, wenn ihre Entschlüsse keiner großen Tatsachen bedurften, um zu reifen, nur einer kleinen Idee, eines unbedeutenden Wunschtraums. Ich werde ihn verlassen, wiederholte sie sich, und diesmal gingen kleine Fasern von dem Gedanken aus, die ihn an sie banden. Von jetzt an war der Gedanke in ihr, und die Fasern würden wachsen, bis sie Wurzeln schlügen.
    Wie oft würde sie sich das noch vornehmen, bis sie ihn wirklich verließ? Sie war schon jetzt der kleinen Kämpfe müde, die sie noch würde durchstehen müssen, wenn sie sich auflehnen und dann sofort wieder nachgeben würde, bis zum Ende. In ihr war eine schnelle, ungeduldige Bewegung, die nur sichtbar wurde in einem unmerklichen Zucken ihrer Hand. Otávios Blick legte sich für eine Sekunde auf sie, dann schrieb er weiter wie ein Schlafwandler. Wie empfindsam er war, dachte sie dazwischen. Dann nahm sie ihren Gedanken wieder auf: Warum aufschieben? Ja, warum eigentlich aufschieben?, fragte sie sich. Und die Frage war berechtigt, sie verlangte eine ernsthafte Antwort. Sie richtete sich in dem Sessel auf, nahm eine feierliche Haltung ein, als würde sie sich nun anhören, was sie zu sagen hatte.
    Da seufzte Otávio laut, schloss das Buch und das Heft mit einem Knall, warf beide in einer übertriebenen Geste weit von sich und streckte die langen Beine aus. Sie sah ihn erschrocken und beleidigt an. Also … – begann sie ironisch. Aber sie wusste nicht weiter und wartete, während sie ihn ansah. Er

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