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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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gespürt, wie sie in seinen Armen plötzlich zu Leben erwachte wie strömendes Wasser. Und als er sie so lebendig sah, hatte er vernichtet und insgeheim erfreut begriffen, dass, wenn sie ihn wollte, er nichts dagegen tun könnte. Als er sie schließlich geküsst hatte, hatte er selbst sich plötzlich frei gefühlt, losgesprochen über das hinaus, was er von sich selbst wusste, losgesprochen von allem, was unter seinem Selbst lag …
    Von da an hatte er keine Wahl mehr. In einem rasenden Taumel fiel er von Lídia ab zu Joana hin. Als er das erkannte, behalf er sich damit, sie zu lieben. Es war nicht schwer. Einmal blickte sie gedankenverloren durchs Fenster, mit leicht geöffneten Lippen, selbstvergessen. Er hatte sie gerufen, und die sachte, verlorene Art, wie sie den Kopf wandte und »hm?« sagte, hatte ihn in sich selbst zurückfallen lassen, ihn untertauchen lassen in eine betörende, dunkle Welle von Liebe. Otávio hatte sein Gesicht abgewendet, wollte sie nicht sehen.
    Er könnte sie lieben, er könnte das neue, unbegreifliche Abenteuer, das sie ihm bot, annehmen. Aber er konnte noch immer nicht den ersten Eindruck von ihr loswerden, der ihn gegen sie geschleudert hatte. Nicht als Frau, nicht auf diese Weise, so ergeben, wollte er sie … Er brauchte sie kühl und sicher. Damit er sich in seine Kindheit flüchten und fast siegessicher sagen konnte: Es ist nicht meine Schuld …
    Sie würden heiraten, sich Minute um Minute sehen, und sie sollte schlechter sein als er. Und stark, um ihn zu lehren, keine Angst zu haben. Nicht einmal Angst, nicht zu lieben … Er wollte sie nicht, um ein Leben mit ihr aufzubauen, sie sollte ihm vielmehr gestatten zu leben. Mit sich selbst zu leben, mit seiner Vergangenheit, mit den kleinen Gemeinheiten, die er feige begangen hatte und mit denen er sich noch feige verbunden fühlte. Otávio glaubte, dass er an Joanas Seite weiterhin sündigen konnte.
    Als Otávio sie geküsst, ihre Hände genommen und gegen seine Brust gepresst hatte, hatte Joana sich auf die Lippen gebissen, anfänglich voller Wut, weil sie nicht wusste, mit welchem Gedanken sie dieses heftige Gefühl bekleiden sollte, das wie ein Schrei in ihrer Brust aufstieg, bis in den Kopf, und sie betörte. Sie sah ihn an, ohne ihn zu sehen, ihre Augen trüb, ihr Körper leidend. Sie mussten sich verabschieden. Sie riss sich plötzlich los und ging, ohne sich umzudrehen, ohne Sehnsucht, fort.
    In ihrem Zimmer, schon ausgezogen auf dem Bett liegend, konnte sie nicht einschlafen. Ihr Körper war schwer, existierte außerhalb von ihr wie ein Fremder. Sie fühlte ihn pochen und brennen. Sie machte das Licht aus, schloss die Augen, versuchte zu fliehen, zu schlafen. Aber während langer Stunden fuhr sie fort, sich zu erkunden, dem Blut nachzugehen, das wie ein trunkenes Tier schwerfällig in ihren Adern strömte. Und nachzudenken. Wie wenig sie sich bisher kannte. Diese feinen, leichten Formen, diese zarten Linien einer Halbwüchsigen. Sie öffneten sich, atmeten erstickt und bis zum Äußersten angefüllt mit sich selbst.
    Im Morgengrauen glättete eine Meeresbrise das Bett und bewegte die Vorhänge. Joana beruhigte sich allmählich. Die Frische vom Ende der Nacht strich zärtlich über ihren schmerzenden Körper. Erschöpfung ergriff langsam Besitz von ihr, und plötzlich ermattet, überließ sie sich einem tiefen Schlaf.
    Sie wachte spät auf und heiter. Sie hatte das Gefühl, als hätte sich jede Zelle geöffnet wie eine Blüte. Wie durch ein Wunder waren alle Kräfte wach, zum Kampf gerüstet. Wenn sie an Otávio dachte, atmete sie behutsam, als würde die Luft ihr wehtun. Während der folgenden Tage sah sie ihn nicht und setzte auch nichts daran, ihn zu sehen. Sie mied ihn eigentlich sogar, als sei seine Anwesenheit entbehrlich.
    Und sie war so sehr Körper, dass sie reiner Geist war. Sie durchlebte Ereignisse und Stunden schwerelos, schlüpfte zwischen ihnen hindurch mit der Leichtigkeit eines Augenblicks. Sie aß kaum, und ihr Schlaf war zart wie ein Schleier. Sie wachte nachts oft auf, ohne zu erschrecken, und machte sich, bevor sie nachdachte, zum Lächeln bereit. Dann schlief sie wieder ein, ohne ihre Lage zu verändern, schloss nur die Augen. Sie suchte sich oft im Spiegel und liebte sich ohne Eitelkeit. Die entspannte Haut und die wachen Lippen bewirkten, dass sie fast schüchtern ihrer Erscheinung den Rücken kehrte, sie hatte nicht die Kraft, dem frischen, feuchten Blick dieser Frau standzuhalten, der in seiner Milde

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