Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
Vom Netzwerk:
hell und sicher war.
    Dann hatte die Glückseligkeit ein Ende.
    Die Fülle wurde schmerzhaft und drückend, und Joana war eine regenschwere Wolke. Sie atmete mühevoll, als sei kein Raum in ihr für Luft. Sie lief auf und ab, erstaunt über die Veränderung. Wie?, fragte sie sich und fühlte, wie naiv sie war, gab es da zwei Seiten? War der Grund ihres Kummers derselbe, der sie so schrecklich glücklich gemacht hatte?
    Sie schleppte tagelang den kranken Körper wie einen unbequemen Verletzten mit sich herum. Die Unbeschwertheit hatte Elend und Erschöpfung Platz gemacht. Sie war gesättigt – ein Tier, das seinen Durst gestillt hatte, indem es im Wasser untergetaucht war. Aber sehnsüchtig und unglücklich, als gäbe es trotz allem noch Regionen, die noch nicht gewässert waren, sondern verdorrt und durstig. Vor allem litt sie, weil sie nicht begriff, war allein und sprachlos. Bis sie, die Stirn an die Fensterscheibe gelehnt – eine ruhige Straße, der Tag neigte sich, die Welt dort draußen –, fühlte, wie ihr Gesicht feucht wurde. Sie weinte hemmungslos, als sei das die Lösung. Dicke Tränen fielen, ohne dass sie einen Muskel im Gesicht anspannte. Sie weinte so viel, dass sie es nicht sagen konnte. Danach kam es ihr vor, als sei sie in ihre wahren Proportionen zurückgekehrt, klein, schlaff, bescheiden. Auf eine beruhigende Weise leer. Sie war bereit.
    Da suchte sie ihn auf. Und das neuerliche Hochgefühl und das neuerliche Leiden waren intensiver und noch unerträglicher als zuvor.
    Sie heiratete.
    Die Liebe bestätigte alle alten Dinge, von deren Existenz sie vorher gewusst, die sie aber nie erlebt und gefühlt hatte. Die Welt drehte sich unter ihren Füßen, es gab zwei Geschlechter bei den Menschen, Hunger und Sättigung hingen zusammen, die Liebe der Tiere, das Regenwasser floss ins Meer, Kinder waren wachsende Wesen, der Keim in der Erde würde zu einer Pflanze werden. Sie würde nun nicht mehr leugnen können … was? – fragte sie sich gespannt. Den leuchtenden Mittelpunkt der Dinge, die Bestätigung, die unter allem ruhte, die Harmonie, die unter dem existierte, was sie nicht verstand.
    Sie erhob sich für einen neuen Morgen, sanft lebend. Und ihr Glück war so rein wie der Reflex der Sonne im Wasser. Jedes Ereignis zitterte in ihrem Körper, als zersplitterten kleine, gläserne Nadeln. Nach den kurzen, intensiv empfundenen Augenblicken lebte sie lange Zeit voller Gelassenheit, verstehend, empfangend, sich mit allem abfindend. Es war ihr, als sei sie Teil der wahrhaften Welt und als habe sie sich auf merkwürdige Weise von den Menschen entfernt. Abgesehen davon, dass sie ihnen während dieser Zeit die Hand entgegenstrecken konnte mit einer Brüderlichkeit, deren lebendige Quelle sie spürten. Sie erzählten ihr von ihren eigenen Schmerzen, und obwohl sie weder zuhörte noch nachdachte, noch sprach, blickte sie wohlwollend – leuchtend und geheimnisvoll wie eine schwangere Frau.
    Was geschah dann? Sie lebte auf wundersame Weise, befreit von allen Erinnerungen. Die ganze Vergangenheit hatte sich aufgelöst. Und auch die Gegenwart war Nebel, zarte, frische Nebelschwaden, die sie von der festen Realität trennten und sie hinderten, sie zu berühren. Wenn sie beten, wenn sie nachdenken würde, dann, um sich für ihren Körper zu bedanken, der für die Liebe geschaffen war. Die einzige Wahrheit war für sie nun diese Sanftheit, in die sie eingetaucht war. Ihr Gesicht war schwerelos und unbestimmt, es schwebte zwischen den anderen undurchdringlichen, selbstsicheren Gesichtern, als könnte es keinen Halt finden in irgendeinem Ausdruck. Ihr ganzer Körper und ihre Seele verloren die Grenzen, verschwammen ineinander, verschmolzen zu einem einzigen Chaos, das sanft und formlos war, langsam und mit vagen Bewegungen, wie Materie, die einfach lebte. Es war die vollkommene Erneuerung, die Schöpfung.
    Und ihre Verbindung zur Erde war so tief und ihre Gewissheit so fest – worüber? worüber? –, dass sie jetzt lügen konnte, ohne sich selbst zu verraten. Das alles ließ sie manchmal denken:
    »Mein Gott, wer weiß, ob ich daraus nicht mehr mache als Liebe?«
    Allmählich gewöhnte sie sich an den neuen Zustand, gewöhnte sich daran zu atmen, zu leben. Allmählich alterte sie in sich, öffnete die Augen und war erneut eine Statue, nicht mehr formbar, aber doch konturiert. Aus der Ferne kam wieder Unruhe auf. Nachts, zwischen den Laken, brachte irgendeine Bewegung oder ein unerwarteter Gedanke sie zu sich selbst.

Weitere Kostenlose Bücher