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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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gewissen Inbrunst. Nicht dem Rest gegenübertreten müssen. Nur denken, nur denken und weiterschreiben. Sollten sie doch Artikel über Spinoza von ihm fordern, wenn er nur nicht als Anwalt arbeiten, nicht mit diesen Menschen zu tun haben musste, die so abstoßend menschlich waren, wenn sie an ihm vorbeizogen, sich schamlos zur Schau stellten.
    Er las die Anmerkungen zu der vorherigen Lektüre noch einmal durch. – Der reine Wissenschaftler hört auf, an das zu glauben, was er liebt, kann aber nicht verhindern, das zu lieben, woran er glaubt. Das Bedürfnis, an etwas Gefallen zu finden: Markenzeichen des Menschen. – Nicht vergessen: »Die intellektuelle Liebe Gottes« ist das wahre Wissen und schließt jeden Mystizismus oder jeden Götzendienst aus. – Viele Antworten finden sich in Spinozas Worten. Liegt nicht in der Vorstellung, es gebe kein Denken ohne Ausdehnung (Seinsweise Gottes) und umgekehrt, die Sterblichkeit der Seele bestätigt? Natürlich: Sterblichkeit als unterscheidbare und denkende Seele, die eindeutige Unmöglichkeit der reinen Form der Engel des heiligen Thomas. Sterblichkeit in Bezug auf den Menschen. Unsterblichkeit durch die Verwandlung in Natur. – Innerhalb der Welt gibt es keinen Ort für andere Schöpfungen. Es besteht nur Aussicht auf Wiedereingliederung und Kontinuität. Alles, was existieren könnte, existiert schon. Nichts kann mehr erschaffen, nurmehr offenbart werden. – Wenn der Mensch, je höher er entwickelt ist, umso mehr versucht, zusammenzufassen, zu bewerten, Prinzipien und Gesetze für sein Leben aufzustellen, wie könnte dann Gott – in jedem Sinne, auch der bewusste Gott der Religionen – infolge seiner eigenen Vollkommenheit nicht absolute Gesetze haben? Ein Gott, der mit einem freien Willen ausgestattet ist, ist geringer als ein Gott des einen Gesetzes. Aus ebendiesem Grund ist auch ein Begriff umso wahrer, je mehr er nur einer ist und sich nicht in jedem einzelnen Fall verwandeln muss. Die Vollkommenheit Gottes wird eher durch die Unmöglichkeit von Wundern als durch deren Möglichkeit bewiesen. Wunder zu vollbringen heißt für einen von den Religionen vermenschlichten Gott, ungerecht zu sein – Tausende von Menschen brauchen ebenfalls und zur selben Zeit dieses Wunder – oder einen Irrtum zu erkennen, indem man ihn richtigstellt – was, mehr als eine Gutmütigkeit oder »Charakterstärke«, bedeutet, sich geirrt zu haben. – Weder der Verstand noch der Wille gehören zur Natur Gottes, sagt Spinoza. Das macht mich glücklicher und freier. Denn die Vorstellung eines bewussten Gottes ist entsetzlich unbefriedigend.
    Seiner Studie würde er ein übersetztes Zitat von Spinoza voranstellen: »Die Körper unterscheiden sich voneinander hinsichtlich der Bewegung und Ruhe, der Geschwindigkeit und der Langsamkeit, aber nicht hinsichtlich der Substanz.« Er hatte diesen Satz Joana gezeigt. Warum? Er zog den Kopf ein, ohne eine weitere Erklärung zu suchen. Sie hatte sich neugierig gezeigt und das Buch lesen wollen.
    Otávio streckte die Hand aus und griff danach. Ein Blatt aus einem Heft lag zwischen den Seiten. Er warf einen Blick darauf und entdeckte Joanas unsichere Handschrift. Gierig beugte er sich vor. »Die Schönheit der Wörter: abstrakte Eigenschaft Gottes. Es ist wie Bach hören.« Warum hätte er es lieber gehabt, wenn sie diesen Satz nicht geschrieben hätte? Joana überrumpelte ihn immer. Er schämte sich, als hätte sie ihn eindeutig angelogen und ihn damit dazu gezwungen, sie zu betrügen, indem er ihr sagte, dass er ihr glaubte …
    Ihre Worte zu lesen war so, als stünde er vor Joana. Er beschwor sie herauf und indessen er ihrem Blick auswich, sah er sie in ihren Momenten der Zerstreuung, das weiße, unbestimmte, schwerelose Gesicht. Und plötzlich überfiel ihn große Melancholie. Was tue ich eigentlich?, fragte er sich und wusste nicht einmal, warum er so plötzlich gegen sich selbst angegangen war. Nein, heute nicht schreiben. Und da dies ein Zugeständnis war, ein unbestreitbarer Befehl, horchte er in sich hinein: Wenn er wirklich wollte, könnte er dann arbeiten? Und die Antwort war eindeutig: Nein – und da nun die Entscheidung mächtiger war als er selbst, war er fast froh. Heute gewährte ihm jemand einen Ruhetag. Nicht Gott. Nicht Gott, aber jemand. Der sehr stark war.
    Er würde aufstehen, die Papiere ordnen, das Buch wegstellen, sich warm anziehen und Lídia besuchen. Die Bequemlichkeit der Ordnung. Wie würde Lídia ihn empfangen? Er sah

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