Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
sich vor dem offenen Fenster stehen, wie er die Kinder auf dem Weg zur Schule betrachtete, sah sich ihre Schultern packen, plötzlich voller Wut, vielleicht ein bisschen gekünstelt, vor jene ewiggleiche Frage gestellt: Was tue ich eigentlich?
»Hast du denn keine Angst?«, hatte er sie angeschrien.
Lídia hatte sich nicht gerührt.
»Hast du denn keine Angst vor deiner Zukunft, vor unserer Zukunft, vor mir? Weißt du denn nicht, dass … dass … du als meine bloße Geliebte … gerade einmal einen Platz an meiner Seite hast?«
Sie bewegte überrascht den Kopf und stammelte weinerlich:
»Aber nein …«
Er schüttelte sie, schämte sich auf unbestimmte Art dafür, dass er so viel Stärke demonstrierte, während er vor Joana zum Beispiel schwieg.
»Hast du denn keine Angst, dass ich dich verlasse? Weißt du denn nicht, dass du eine Frau ohne Ehemann, ohne irgendetwas bist, wenn ich dich verlasse … eine arme Seele, die eines Tages von ihrem Verlobten verlassen wurde und dann die Geliebte dieses Verlobten wurde, während er eine andere heiratete …«
»Ich will nicht, dass du mich verlässt …«
»Ach …«
»… aber ich habe keine Angst …«
Er sah sie überrascht an. Ihm fiel auf, dass sie abgenommen hatte. Aber sie sah immer noch gesund aus. Trotzdem war sie nervöser, weinte leichter, war schneller ergriffen. Plötzlich fing er an zu lachen.
»Ich weiß wirklich nicht, woraus du gemacht bist.«
Lídia lachte auch, froh, dass alles vorbei war. Ihr strahlender Blick schüchterte ihn ein, er zog sie an sich, um ihre Augen nicht zu sehen. Und sie hatten einen Augenblick lang umschlungen dagestanden, erfüllt von unterschiedlichen Sehnsüchten.
Und jetzt? Lídia würde ihn wie immer empfangen. Er schrieb Joana einen Zettel, teilte ihr mit, dass er zum Mittagessen nicht daheim sein würde. Arme Joana …, könnte er sagen, wenn er wollte. Sie würde es nie erfahren. So aufrecht in ihrem ignoranten Hochmut … Aber er würde sie grimmig verschonen, lachte er, sein Herz klopfte. Gut, morgen würde er etwas Maßgebliches zu dem Artikel schreiben.
Bevor er ging, musterte er sich im Spiegel, mit halb geschlossenen Augen betrachtete er das wohlgeformte Gesicht, die gerade Nase, die runden, vollen Lippen. Aber ich bin schließlich an nichts schuld, sagte er sich. Nicht einmal daran, dass ich geboren bin. Und auf einmal verstand er nicht mehr, wie er an Verantwortung hatte glauben, ständig dieses Gewicht hatte spüren können. Er war frei … Wie einfach manchmal alles war …
Er verließ das Haus, wählte bedächtig eine Tüte Bonbons aus. Schließlich kaufte er eine ziemlich große, solche mit Aprikosengeschmack. Wenn er um die Ecke bog, würde er den ersten Bonbon lutschen, mit den Händen in der Tasche. Seine Augen blickten zärtlicher bei dem Gedanken. Warum nicht?, fragte er sich plötzlich irritiert. Wer hat denn gesagt, dass ausgewachsene Männer keine Bonbons essen? Nur denkt niemand daran, das in den Biographien zu erwähnen. Wenn Joana von diesem seinem Gedanken wüsste? Nein, sie hatte sich eigentlich nie ironisch gezeigt, wenn … Kurz flammte Wut in ihm auf, und er beschleunigte seine Schritte.
Bevor er um die Ecke bog, schüttete er die Bonbons in den Rinnstein. Gequält beobachtete er, wie sie sich mit dem Dreck vermischten und bis zu einem dunklen Loch voller Spinnweben kullerten.
Er setzte seinen Weg langsamer fort, die Schultern hochgezogen. Es war ein bisschen kühl. Jetzt müsste eigentlich jemand zufrieden sein, dachte er flüchtig. Wie eine Strafe, wie ein Geständnis.
»Selbst große Menschen werden erst nach ihrem Tod wirklich anerkannt und verehrt. Warum? Weil die, die sie rühmen, sich dem Gerühmten auf irgendeine Weise überlegen fühlen müssen, sie müssen das Lob gewähren. Danach … zeigt sich eine klare Überlegenheit … Wer rühmt … hat sich halten können … Man kann sogar von einer gewissen Herablassung sprechen … was bleibt … Mitleid«, sagte Otávio.
Lídia beobachtete ihn gerne in einem seiner hässlichsten Momente. Schmale Lippen, gerunzelte Stirn, stierer Blick – Otávio dachte nach. Und sie liebte ihn in diesem Augenblick. Seine Hässlichkeit erregte sie nicht, tat ihr nicht leid. Sie fühlte sich ihm einfach enger und freudiger verbunden. Es war die Freude darüber, jemanden gänzlich anzunehmen, zu fühlen, dass das Wahrhaftige, Ursprüngliche in ihr sich an jemanden band, unabhängig von allen anerzogenen Vorstellungen von Schönheit. Sie dachte
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