Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
Vom Netzwerk:
dann kann man sich nur schämen. Nichts geht verloren, nichts entsteht. Wer das empfinden könnte, das heißt, wer nicht nur begreifen, sondern wirklich lieben könnte, der wäre so glücklich wie einer, der wahrhaft an Gott glaubt. Am Anfang tut es etwas weh, aber dann gewöhnt man sich daran. Wer diese Seite schreibt, ist eines Tages geboren worden. Jetzt ist es genau kurz nach sieben Uhr morgens. Draußen ist es neblig, jenseits des Fensters, des Offenen Fensters, das große Symbol. Joana würde sagen: Ich fühle mich so sehr in der Welt, dass es für mich gar nicht wie denken ist, sondern wie auf neue Weise atmen. Lebwohl. Das ist die Welt, ich bin ich, es regnet auf der Welt, falsch, ich bin ein Geistesarbeiter, Joana schläft im Zimmer, jemand wacht wohl gerade auf, Joana würde sagen: noch einer stirbt gerade, noch einer hört Musik, jemand ist ins Bad gegangen, das ist die Welt. Ich werde alle anrühren, ich werde sie rufen, damit sie mit mir mitfühlen. Ich lebe mit einer nackten, kalten Frau zusammen, nicht fliehen, nicht fliehen, die mir geradewegs in die Augen sieht, nicht fliehen, die mich beobachtet, falsch, falsch, aber es stimmt. Jetzt liegt sie im Bett und schläft, sie schläft, besiegt vom Schlaf, besiegt, besiegt. Sie ist ein kleiner Vogel in einem weißen Nachthemd. Alle werden gerührt sein, ich behüte meine Fehler nicht, aber alle sollen mich behüten.
    Er setzte sich aufrecht hin, strich sich übers Haar, wurde ernst. Jetzt würde er anfangen zu arbeiten. Als ob alle zuschauten und billigend nickten, die Lider gesenkt zum Zeichen der Zustimmung: Ja, ganz genau, sehr richtig. Von einer realen Person fühlte er sich immer gestört, und allein war er haltlos und nervös. »Alle« also schauten ihm zu. Er hüstelte, schob vorsichtig das Tintenfass beiseite und begann. »Die moderne Tragödie ist der vergebliche Versuch des Menschen, sich dem Zustand der Dinge anzupassen, die er geschaffen hat.«
    Er lehnte sich etwas zurück, sah auf das Heft, zog den Schlafanzug zurecht. »Die Einbildungskraft ist so grundlegend für den Menschen, dass … – wieder Joana –, dass die ganze Welt, die er erschaffen hat, ihre Rechtfertigung in der Schönheit der Schöpfung findet und nicht in ihrer Nützlichkeit, nicht darin, dass sie das Resultat eines Plans ist, dessen Ziele seinen Bedürfnissen entsprechen. Deshalb sehen wir eine Vervielfachung von Hilfsmitteln, die den Menschen mit den vorhandenen Ideen und Institutionen vereinigen sollen – Erziehung, zum Beispiel, ein schwieriges Thema –, und ihn selbst sehen wir immer außerhalb der Welt, die er geschaffen hat. Der Mensch errichtet Häuser, um sie zu betrachten, nicht, um darin zu wohnen. Denn alles folgt dem Weg der Inspiration. Der Determinismus ist kein Determinismus der Ziele, sondern ein strikter Determinismus der Ursachen. Spielen, erfinden, der Ameise bis zu ihrem Ameisenhaufen folgen, Wasser mit Kalk vermischen, um das Ergebnis zu sehen, das und nichts anderes tut man, wenn man klein und wenn man groß ist. Es ist ein Irrtum, zu glauben, wir hätten ein hohes Maß an Pragmatismus und Materialismus erreicht. In Wahrheit wäre Pragmatismus – der Plan, der sich auf ein gegebenes, reales Ziel richtet – gleichbedeutend mit Begreifen, mit Stabilität, mit Glück; es wäre der größte Sieg der Anpassung, den der Mensch erringen könnte. Dinge jedoch zu tun, ›um zu‹, das scheint mir, angesichts der Realität, eine Vollkommenheit, die man vom Menschen unmöglich erwarten kann. Am Beginn seiner ganzen Projekte steht ›weil‹. Neugier, Träumereien, Einbildungskraft – daraus ist die moderne Welt entstanden. Der Mensch ist seinen Eingebungen gefolgt, hat diese Zutaten vermischt und neu kombiniert. Seine Tragödie: sich von ihnen ernähren zu müssen. Er vertraute darauf, dass er in dem einen Leben etwas würde imaginieren und, unbehelligt davon, in dem anderen würde leben können. In der Tat dauert dieses andere Leben an, aber seine reinigende Wirkung auf das vorgestellte Leben entfaltet sich nur langsam, und der auf sich selbst gestellte Mensch findet nicht auf der einen Seite dumme Gedanken und auf der anderen den Frieden des wahren Lebens. Man kann nicht ungestraft denken.« Joana dachte ohne Furcht und ohne Tadel. Würde am Ende der Wahnsinn stehen – oder was sonst? Er konnte es nicht vorhersehen. Vielleicht nur das Leid.
    Er hielt inne, las seine Notizen noch einmal. Sich nicht außerhalb dieser Welt stellen, dachte er mit einer

Weitere Kostenlose Bücher