Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Straße nachblickte, die Schulkameradinnen sie aufnahmen, voller Bewunderung für fülliges, schönes Haar. Otávio, der ihr mit den Augen folgte … diese nie wieder erloschene Gewissheit, dass sie jemand war … Da begriff sie, dass sie nicht arm war, dass sie Otávio etwas zu geben hatte, dass es einen Weg gab, ihm ihr Leben zu widmen, alles, was sie gewesen war … Sie hatte auf ihn gewartet. Als sie schließlich bis zu ihm gedrungen war, war Joana gekommen, und er war geflohen. Sie wartete weiter. Er kehrte zurück. Ein Kind würde zur Welt kommen. Ja, aber bevor es geboren würde, würde sie ihre Rechte einfordern. »Ihre Rechte einfordern« schien ihr ein Satz, der schon immer in ihr geschlummert hatte, wartend. Darauf wartend, dass sie die Kraft fand. Sie wollte, dass das Kind zwischen den Eltern heranwuchs. Und eigentlich wünschte sie sich vor allem für sich selbst die »kleine Familie«.
Sie lächelte sanft, als sie Otávio über etwas nachsinnen hörte, dessen Anfang sie nicht mitbekommen hatte. Seit der Fötus in ihr wuchs, hatte sie gewisse Eigenheiten verloren, andere angenommen, wagte sich vor in gewisse Gedankengänge. Es schien ihr, als habe sie bis dahin unwahrhaftig gelebt. Ihre Bewegungen waren losgelöster von ihrem Körper, als hätte sie jetzt mehr Raum auf der Welt für ihr Wesen. Sie würde für das Kind und für Otávio sorgen, ja, sie würde … Sie lehnte sich bequem im Sessel zurück, die Stickerei glitt auf den Teppich. Sie schloss die Augen halb, und da wuchs der Bauch, üppig, leuchtend. Sie überließ sich einem wohligen Gefühl, eine gewisse Trägheit überkam sie jetzt immer häufiger. Sie hatte nicht die geringste Übelkeit gespürt, auch nicht am Anfang. Und sie wusste, dass die Geburt einfach sein würde, einfach wie alles. Sie legte die Hände auf die noch nicht unförmigen Hüften. Irgendwie verachtete sie die anderen Frauen zutiefst.
Otávio erhaschte ihren Gesichtsausdruck und erschrak. Eine träumerische Grausamkeit … Er sah sie forschend an, ohne sie enträtseln zu können, begriff nur, dass er von diesem angedeuteten Lächeln ausgeschlossen war. Weil es ein Lächeln war, ein schreckliches, zufriedenes Lächeln, obwohl ihr Gesicht dabei ernst blieb, die Augen offen nach vorn blickten. Furcht ergriff ihn, und er schrie fast:
»Du hast nicht einmal zugehört!«
Lídia richtete sich erschrocken auf, war wieder ganz bei ihm, gehörte ihm:
»Ich …«
»Du hast mich überhaupt nicht verstanden«, wiederholte er keuchend und sah sie an. Würde sich die Szene vom letzten Mal wiederholen? Nein, ein Kind war in ihr. Warum werde ich ein Kind haben? Warum ich? Ausgerechnet ich? Seltsam … Im nächsten Augenblick würde er sich fragen: Was tue ich eigentlich? Nein, nicht …
»Aber ich tue mehr, als dich nur zu verstehen. Ich liebe dich …«, sagte sie hastig.
Er seufzte unmerklich, noch ein bisschen unter dem Eindruck des Schreckens, den die Flucht der Frau ihm eingejagt hatte. Es war einfach so, dass sie nicht mehr ganz und gar zu ihm zurückkam wie vor der Schwangerschaft. Und er selbst hatte ihr diese Herrschaft überlassen, der Dummkopf … Ja, aber wenn sie sich von dem Kind befreite, wenn sie sich von dem Kind befreite … Wenige Minuten später überließ Otávio sich schon wieder beruhigt der Gelassenheit und der Schlaffheit, die seine Beziehung zu Lídia so gut stützten.
DIE BEGEGNUNG MIT OTÁVIO
Die dichte, dunkle Nacht wurde in der Mitte zerschnitten, in zwei schwarze Blöcke von Schlaf geteilt. Wo war sie? Zwischen den beiden Stücken, sie anblickend – zwischen dem, das sie schon geschlafen hatte, und dem, das sie noch schlafen würde –, isoliert in Zeit- und Raumlosigkeit, in einer Leere dazwischen. Dieser Abschnitt würde von ihren Lebensjahren abgezogen werden.
Decke und Wände gingen nahtlos ineinander über, schweigsam, mit verschränkten Armen, und sie war in einer Kapsel. Joana betrachtete sie, ohne Gedanken, ohne Erregung, wie ein Ding, das ein anderes Ding ansieht. Nach und nach, durch eine Bewegung des Beins, wuchs in ihr entfernt wieder das Bewusstsein heran, vermischt mit einem Geschmack von Schlaf im Mund, der sich schließlich im ganzen Körper ausbreitete. Der Mondschein bleichte das Zimmer, das Bett. Ein Moment, noch ein Moment, noch ein Moment, noch ein Moment. Plötzlich entzündete sich etwas in ihr wie ein kleiner Strahl und sagte rasch, ohne dass sie einen Gesichtsmuskel verzog: Guck zur Seite. Sie sah weiter an die Decke,
Weitere Kostenlose Bücher