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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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Faszinierende und Beängstigende an Joana war gerade die Freiheit, in der sie lebte, wie sie plötzlich gewisse Dinge liebte, für andere wieder war sie blind, ließ sie völlig unbeachtet. Er hingegen sah sich verpflichtet gegenüber allem, was existierte. Joana hatte schon recht, er musste jemandem gehören … »Du fasst Geld mit einer solchen Vertraulichkeit an … «, hatte Joana einmal gescherzt, als er in einem Restaurant die Rechnung bezahlte, und er war in seiner Zerstreutheit so erschrocken, dass ihm vor dem Ober, wie ironisch, Scheine und Münzen aus der Hand glitten und sich zu seinen Füßen verteilten. Obwohl keine ironische Bemerkung folgte – das sei zu ihrer Rechtfertigung gesagt, Joana lacht nicht –, hielt er seitdem immer eine Antwort bereit: Was sonst soll man mit Geld tun, als zu sparen, um es auszugeben? Er war verärgert, beschämt. Er fühlte, dass das nicht die geeignete Antwort für Joana war.
    Eigentlich war es doch so: Wenn er kein Geld gehabt hätte, wenn er nicht all die »kleinen Regeln« besessen hätte, wenn er die Ordnung nicht geliebt, wenn es die Zeitschrift für Rechtswissenschaft nicht gegeben hätte, nicht das vage Vorhaben des Buches über Zivilrecht, wenn Lídia nicht von Joana abgetrennt, wenn Joana nicht eine Frau und er ein Mann gewesen wäre, wenn, oh Gott, wenn alles … was hätte er dann getan? Nein, nicht »was hätte er getan«, sondern an wen würde er sich wenden, wie würde er sich bewegen? Es war unmöglich, zwischen den Blöcken durchzugleiten, ohne sie zu sehen, ohne auf sie angewiesen zu sein …
    Anders als es die Regeln vorsahen – ein Zugeständnis –, nahm er schon Papier und Bleistift zur Hand, noch bevor er richtig vorbereitet war. Aber das verzieh er sich, er wollte diesen Gedanken aufschreiben, der ihm vielleicht eines Tages nützlich sein würde: »Ein gewisses Maß an Blindheit ist notwendig, um bestimmte Dinge zu sehen. Das ist vielleicht das Markenzeichen des Künstlers. Jeder Mensch kann mehr wissen als er und unstreitige, wahrheitsgetreue Überlegungen anstellen. Aber gerade diese Dinge bleiben verborgen, wenn Licht brennt. In der Dunkelheit leuchten sie auf.« – Er dachte ein wenig nach. Dann notierte er, obwohl sich das Zugeständnis nun doch allzu sehr in die Länge zog: »Nicht das Maß trennt die Intelligenz vom Genie, sondern die Qualität. Das Genie ist nicht so sehr eine Frage dessen, was man intellektuell vermag, sondern der Form, in der dieses Vermögen sich darstellt. Man kann einen genialen Menschen ohne Weiteres an Intelligenz übertreffen. Aber der Geniale ist er. Kindisch, dieses ›der Geniale ist er‹. Sehen, ob sich diese Entdeckung auf Spinoza anwenden lässt.« – Stammte das von ihm selbst? Jeder Gedanke, der ihm kam, wurde ihm binnen Sekunden vertraut und brachte deshalb die Furcht mit sich, ihn gestohlen zu haben.
    Gut, jetzt die Ordnung. Bleistift locker, empfahl er sich, mach dich frei von deinen fixen Ideen. Eins, zwei, drei! Ich bedaure sehr, so im Leid zu versinken, wie es mir geschieht, zwischen den Bambusstauden im Nordwesten der Stadt, begann er. Ich tue, was ich will – fuhr er fort –, und niemand zwingt mich, die Göttliche Komödie zu schreiben. Es gibt keine andere Seinsweise als die, die ist, der Rest ist nutzlose Ausschmückung und so unbequem wie diese Reliefstickerei, mit Engeln und Blumen, mit der die Cousine Isabel meine Kopfkissen verzierte. Wenn ich gerade in Gedanken war und sie hereinkam wie eine Wolke, purpurrot und dumm, was dachte ich dann, sag, was, was, und dann noch viermal was, was, was, was. Komm schon, weich nicht aus: »Was? Du lebst noch? Du bist noch nicht gestorben?« Ja, ja, das war’s, nicht fliehen vor mir, nicht fliehen vor meiner Schrift, wie leicht und wie schrecklich sie ist, ein Spinnennetz, nicht fliehen vor meinen Fehlern, meine Fehler, ich bete euch an, meine Vorzüge sind so klein, genau wie die der anderen Menschen, meine Fehler, meine negative Seite ist schön und konkav wie ein Abgrund. Was ich nicht bin, wäre ein riesiges Loch in der Erde. Ich behüte meine Fehler nicht, Joana hingegen macht keine Fehler, das ist der Unterschied. Na, Junge, sag doch was. Die Frauen drehen sich nach mir um, die Frauen, die Frauen, mein Mund, ich lasse mir wieder einen Schnurrbart wachsen, sie sind außer sich vor Freude und verrückt vor Liebe, Liebe voller Pflaumen und Rosinen. Ich kaufe sie alle ohne Geld, Geld spare ich, wenn eine auf der Straße auf einer Schale ausrutscht,

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