Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
an ihre früheren Klassenkameradinnen – jene stets lebhaften Mädchen, die über alles Bescheid wussten, über Kinos, Bücher, Liebschaften, Kleidung, jene Mädchen, denen sie sich nie wirklich hatte nähern können, schweigsam, wie sie war, ohne dass sie etwas zu sagen gehabt hätte. Sie dachte an sie und wusste, dass sie Otávio in jenem Augenblick sicherlich hässlich gefunden hätten. Sie aber nahm ihn so, wie er war, und würde sich ihn noch hässlicher wünschen, um ihre kampflose Liebe noch mehr unter Beweis zu stellen.
Sie sah ihn an, ohne auf seine Worte zu achten. Es war süß und gut, zu wissen, dass es zwischen ihnen Geheimnisse gab, die ein feines, zartes Leben woben über dem anderen Leben, dem wirklichen. Niemand würde je erraten, dass Otávio sie einmal auf die Augenlider geküsst hatte, dass er auf seinen Lippen ihre Wimpern gefühlt und deswegen gelächelt hatte. Und auf wundersame Weise hatte sie alles verstanden, ohne dass sie es aussprechen mussten. Niemand würde je erfahren, dass sie sich einmal so sehr gewollt hatten, dass sie stumm, ernst, starr geblieben waren. In jedem von ihnen sammelte sich Wissen an, zu dem ein Fremder nie Zugang haben würde. Eines Tages war er gegangen. Aber das war nicht so wichtig. Sie wusste, dass es zwischen ihnen »Geheimnisse« gab, dass sie beide unwiderruflich Komplizen waren. Wenn er wegginge, wenn er eine andere Frau liebte, würde er gehen und eine andere Frau lieben, um es ihr dann mitzuteilen, auch wenn er ihr nichts erzählte. Lídia würde so oder so Teil seines Lebens sein. Gewisse Dinge geschehen nicht ohne Folgen, dachte sie, während sie ihn ansah. Man konnte zwar fliehen – und wird doch niemals frei sein … Einmal wäre sie fast hingefallen, er hatte sie aufgefangen, ihr Haar mit einer gedankenverlorenen Geste gerichtet. Sie dankte ihm mit einem leichten Druck auf den Arm. Sie sahen sich lächelnd an und waren plötzlich wie geblendet vor Glück … Sie beschleunigten ihre Schritte, die offenen Augen betört.
Vielleicht erinnerte er sich nicht genau daran. Sie dagegen hatte ein gutes Gedächtnis für derlei Dinge. Sicher waren diese Ereignisse so beschaffen, dass man sie nicht mit Worten in Erinnerung rufen konnte. Nicht einmal in Worten daran denken konnte. Man konnte nur einen Moment innehalten und sie von neuem erfühlen. Sollte er vergessen. In seinem Herzen jedoch würde sicher so etwas wie ein helles, rosafarbenes Mal zurückbleiben, das das Gefühl und jenen Nachmittag anzeigte. Und was sie anging – jeder neue Tag brachte in seinem Strom weitere Erinnerungen, von denen sie sich nähren konnte. Das sichere Gefühl, glücklich zu sein, ihr Ziel erreicht zu haben, stieg langsam in ihr auf, machte sie zufrieden, fast gesättigt, fast beklommen. Bei jedem Wiedersehen betrachtete sie Otávio nun ohne große Erregung, denn sie hielt ihn für geringer als das, was er ihr gegeben hatte. Sie wollte ihm von ihrer Freude berichten. Aber irgendwie fürchtete sie, ihn zu verletzen, als würde sie ihm erzählen, dass sie ihn mit einem anderen Mann betrogen hätte. Oder als wollte sie ihr Glück zur Schau stellen – ihm gegenüber, der sich zwischen zwei Häusern und zwei Frauen teilte –, als sei ihr Glück größer als seines.
Ja, dachte sie abwesend und sah ihn eingehend an, es gibt unzerstörbare Dinge, die den Körper begleiten bis zum Tod, als seien sie mit ihm geboren worden. Und eines davon ist das, was zwischen einem Mann und einer Frau gewachsen ist, die gewisse gemeinsame Augenblicke erlebt haben.
Und wenn ihr Kind geboren würde – sie strich sich über den schon etwas rundlichen Bauch –, würden sie drei eine kleine Familie sein. Sie dachte in Worten: Eine kleine Familie. Das war es, was sie sich wünschte. Wie ein gutes Ende ihrer ganzen Geschichte. Otávio und sie waren zusammen bei ihrer gemeinsamen Cousine aufgewachsen. Sie war in Otávios Nähe gewesen. Niemand außer ihm war durch ihr Leben gegangen. In ihm hatte sie den Mann entdeckt, bevor sie etwas über Mann und Frau wusste. Ohne weiter darüber nachzudenken, sah sie in ihm diffus die Gattung repräsentiert. Sie erlebte ihn so intensiv, dass sie die anderen nur als verschlossene, fremde, oberflächliche Welten empfunden hatte. Immer, während ihrer ganzen Entwicklung, in seiner Nähe. Sogar zu jener Zeit, als sie heimtückisch geworden war, alles, was sie nur konnte, versteckte, sogar das, was sie gar nicht zu verstecken brauchte. Und zu jener Zeit, als man ihr auf der
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