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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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hatte kaum aufgesehen. Ihr Satz schwebte unbeholfen und zaghaft in der Luft. Ich werde weitermachen, das eben gehört zu meiner Natur, mich nie lächerlich zu fühlen, ich wage immer etwas, ich betrete alle Bühnen. Ganz im Gegensatz zu Otávio, mit seinem so schwachen Schönheitssinn, dass ein etwas schrilles Lachen genügt, um ihn zu zerbrechen und Otávio selbst jämmerlich werden zu lassen. Er würde mir jetzt beunruhigt oder auch lächelnd zuhören. Dachte Otávio schon in ihr? Hatte sie sich schon in eine Frau verwandelt, die ihren Mann hört und erwartet? Sie gab allmählich etwas ab … Sie wollte sich retten, den Lehrer hören, ihn schütteln. Dann erinnerte dieser Alte vor ihr sich also nicht mehr an alles, was er zu ihr gesagt hatte? »Gegen dich selbst sündigen …«
    »Der Kranke stellt sich die Welt vor, und der Gesunde besitzt sie«, fuhr Joana fort. »Der Kranke denkt, dass er nur wegen seiner Krankheit nicht kann, und der Starke hält seine Kraft für sinnlos.«
    Ja, ja, nickte er schüchtern mit dem Kopf. Sie bemerkte, dass sein Unbehagen daher rührte, dass er nicht unterbrochen werden wollte. Sie hatte jedoch weitergesprochen bis zum Ende, mit erstorbener Stimme den Gedanken wiederholt, den sie vor langer Zeit gehabt hatte:
    »Deshalb ist die Poesie der Dichter, die gelitten haben, süß, zärtlich. Und die der anderen, derer, die nie etwas entbehrt haben, brennt, leidet und rebelliert.«
    »Ja«, sagte er, während er den schlaffen Kragen des Schlafanzugs zurechtzog.
    Bloßgestellt und sprachlos, sah sie seinen dunklen, faltigen Hals. Ja, sagte er hin und wieder, ohne dass seine Aufmerksamkeit, auf der Suche nach einem Halt, sich von der Uhr abwandte. Wie ihm sagen, dass sie heiraten würde?
    Um vier Uhr wiederholte sich das gleiche Ritual. Dieses Mal wandte der Bursche sich ab, um dem Fußtritt auszuweichen, weil er das Fläschchen mit der Medizin fast hatte fallen lassen. Da der Versuch scheiterte, flog der Pantoffel des Lehrers vom Fuß, und gekrümmte, gelbliche Nägel kamen zum Vorschein. Der Junge hob den Pantoffel auf, warf ihn Joana zu und lachte dabei, hatte aber Angst näher zu treten. Nachdem das Glas weggeräumt worden war, wagte sie das erste Wort über seine Krankheit auszusprechen, zaghaft und verlegen, weil beide nie zuvor in die Intimität ihrer eigenen Belange vorgedrungen waren, sie hatten sich immer außerhalb ihrer selbst verstanden.
    Sie musste nicht weiter in ihn dringen … Er nahm das Thema auf, glättete es langsam, erklärte ihr ausführlich und lustvoll alle Einzelheiten. Wohlwollend und geheimnisvoll zunächst, in dem Glauben, es sei ihr unmöglich, je seine Welt zu betreten. Aber wenig später vergaß er ihre Gegenwart, und leicht ergriffen, sprach er schließlich ganz offen.
    »Der Arzt hat gesagt, es geht mir noch nicht besser. Aber ich werde wieder gesund«, und dann fügte er hinzu: »Ich weiß mehr als alle Ärzte zusammen. Schließlich bin ich der Kranke …«
    Sie entdeckte endlich, voller Erstaunen, dass er glücklich war …
    Es war gleich fünf Uhr. Sie fühlte, dass er ihr Gehen herbeisehnte. Aber so würde sie ihn nicht zurücklassen, sie wollte sich noch einen Ruck geben. Sie sah ihm tief in die Augen, grausam. Zunächst erwiderte er ihren Blick gleichgültig und unbewegt, dann aber wandte er sich ab, zornig und belästigt.

DIE KLEINE FAMILIE
    Bevor er zu schreiben begann, ordnete Otávio immer sorgfältig die Papiere auf dem Tisch und rückte seine Kleidung zurecht. Er mochte diese kleinen Gesten und alten Gewohnheiten, wie abgetragene Kleidungsstücke, in denen er sich ernst und sicher bewegte. Schon als Student hatte er sich so auf die Arbeit vorbereitet. Er setzte sich an den Tisch und schaffte Ordnung, während sein Bewusstsein geschärft war für die Dinge um ihn herum – ich darf mich nicht in großen Ideen verlieren, ich bin auch nur ein Ding –, dann ließ er die Feder zwanglos über das Papier gleiten, um sich freizumachen von irgendeiner hinderlichen Vorstellung oder Überlegung, einer Sorge, die ihn verfolgen mochte und so seinem wichtigsten Gedankengang im Wege stehen würde.
    Deshalb war es eine Qual, im Beisein anderer zu arbeiten. Er fürchtete die Lächerlichkeit der kleinen Rituale, konnte aber ohne sie nicht auskommen, sie stützten ihn wie ein Aberglaube. Genauso wie er sich, um zu leben, mit Erlaubnissen und Tabus umgab, mit Formeln und Zugeständnissen. Alles wurde einfacher, wie etwas, das man beigebracht bekommen hatte. Das

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