Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
erhält, als er erwartet hat. Er war schön. Und vor allem war er lebendig. Und vor allem liebte ich ihn. Ich wurde geboren, und mein Herz war jung, wenn ich ihn sah. Ich wurde geboren, geboren, geboren. Jetzt eine Strophe. Was ich möchte, mein Schatz, ist dich immer sehen, mein Schatz. Wie ich dich heute gesehen habe, mein Schatz. Auch wenn du stirbst, mein Schatz. Noch eine: Ich hörte eines Tages eine Blume singen und freute mich still darüber; dann näherte ich mich und, o Wunder, es war nicht die Blume, die sang, sondern ein Vogel auf der Blume.«
Joana sprach gegen Ende schläfrig. Durch die halb geschlossenen Augen schwamm das Schiff schräg über das Bild, die Gegenstände im Zimmer streckten sich, erleuchtet, das Ende von dem einen reichte dem Beginn von dem anderen die Hand. Nun, wenn sie schon wusste, dass »alles eins war«, warum dann weiterhin sehen und leben? Der Mann hatte sich mit geschlossenen Augen an ihre Schulter geschmiegt und lauschte träumerisch, ohne zu schlafen. Hin und wieder hörte sie in der lebhaften Stille des Sommernachmittags gedämpft langsame Bewegungen auf dem nachgebenden Holzfußboden. Es war die Frau, die Frau, jene Frau.
Die ersten Male, als Joana das große Haus besucht hatte, hatte sie den Mann fragen wollen: Ist sie wie eine Mutter für dich? sie ist nicht mehr deine Geliebte? will sie dich doch noch im Haus haben, obwohl es mich gibt? Aber sie hatte es immer hinausgeschoben. Und dennoch war die Gegenwart der anderen im Haus so stark, dass die drei ein Paar bildeten. Und nie fühlten Joana und der Mann sich gänzlich allein. Joana hatte die Frau selbst schon fragen wollen: Wo, wo bloß entfaltet sich deine Seele hinter dir? Das aber war ein alter Gedanke. Denn eines Tages hatte sie sie kurz gesehen, der dicke Rücken, der in einem unauflöslichen Block aus Angst unter das schwarze Spitzenkleid gebannt war. Sie hatte sie auch andere, schnelle Male bemerkt, wie sie von einem Schlafzimmer ins Wohnzimmer ging, rasch lächelnd, schrecklich flüchtend. Da hatte Joana entdeckt, dass sie jemand Lebendiges, Schwarzes war. Mit dicken, traurigen, schweren Ohren, mit einer dunklen Tiefe wie eine Höhle. Der zärtliche, flüchtige, lachende Blick einer verblühten Prostituierten. Die feuchten, welken Lippen, groß und stark angemalt. Wie sie den Mann lieben musste. Das weiche Haar war dünn geworden und schimmerte rötlich vom häufigen Färben. Und das Zimmer, in dem der Mann schlief und Joana empfing, dieses fast staubfreie Zimmer mit den Vorhängen, hatte bestimmt sie aufgeräumt. Wie jemand, der das Totenhemd für den Sohn näht. Joana, diese Frau und die Frau des Lehrers. Was eigentlich verband sie miteinander? Die drei diabolischen Grazien.
»Mandeln …«, sagte Joana und wandte sich zu dem Mann. »Das Geheimnis und die Sanftheit der Worte: Mandel … hör nur, wie, wenn man es vorsichtig ausspricht, die Stimme in der Kehle tief hinten im Mund hallt. Sie vibriert, macht mich lang ausgestreckt und gekrümmt wie einen Bogen. Bittere Mandel, giftig und rein.«
Die drei bitteren Grazien, giftig und rein.
»Erzähl noch mal«, bat der Mann.
»Was?«
»Von dem Seemann. Wenn Liebe auf einen Seemann fällt, fällt sie auf die ganze Welt.«
»Schrecklich …«, lachte Joana. »Ich weiß, ich habe selbst gesagt, dass darin so viel Wahrheit stecken muss, dass es schon als Reim geboren wird.«
»Sonntags auf dem Platz. Der Hafenkai …«, half der Mann nach.
Eines Tages hatte er das Schweigen gebrochen, in dem er in Joanas Nähe immer verharrte, und versucht zu sprechen:
»Ich bin immer ein Nichts gewesen.«
»Ja«, entgegnete sie.
»Aber alles, was gewesen ist, würde dich nicht dazu bewegen fortzugehen …«
»Nein.«
»Auch nicht diese Frau … dieses Haus … Das ist etwas anderes, weißt du?«
»Ja.«
»Ich bin immer wie ein Bettler gewesen, ich weiß. Aber ich habe nie um etwas gebeten, brauchte ich auch nicht, ich konnte es auch nicht. Und dann bist du gekommen, verstehst du? Früher habe ich immer gedacht: Nichts war schlecht. Aber jetzt … Warum sagst du mir immer so verrückte Dinge, ich schwöre dir, ich kann nicht …«
Da hatte sie sich auf den Ellbogen gestützt und sich mit auf einmal ernstem Gesicht über ihn gebeugt:
»Glaubst du an mich?«
»Ja …«, antwortete er, erschrocken über ihre Heftigkeit.
»Du weißt, dass ich nicht lüge, dass ich nie lüge, sogar wenn … sogar immer? Fühlst du das? Sprich, sag schon. Alles andere wäre dann egal,
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