Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
müde, und die Haltung nahm ihm nicht die Natürlichkeit. Sie warf ihn nur in eine andere, bis dahin unbekannte. Er war jetzt zwei, aber allmählich wuchs sein neues Wesen und beherrschte die Vergangenheit des anderen. Er presste die Lippen zusammen. Es schien ihm auf geheimnisvolle Weise folgerichtig, dass er gewisse Qualen empfunden hatte, das klare Gefühl des Unterlegenseins, den unbekümmerten Mangel an einer Richtung, um jetzt schließlich Joana zu erhalten. Nicht, dass man ihn irgendwann einmal in den Dreck gestoßen hätte und das gegen seinen Willen, nicht, dass er sich für einen Märtyrer hielt. Er hatte nie eine Lösung erwartet. Auch was die Frauen betraf, die er betrachtete, betrachtete und verließ. Sogar die Frau, bei der er sich jetzt träge eingerichtet hatte, obwohl er ihre Gegenwart kaum ertragen konnte, ein ermüdender, rührender Schatten. Er war auf seinen eigenen Füßen gegangen, der Körper bewusst, hatte herumprobiert und gelitten, ohne Zärtlichkeit für sich selbst, hatte seiner Neugier alles zugestanden, kühl und naiv. Er hatte sich sogar für glücklich gehalten. Und jetzt war ihm Joana begegnet, sie, Joana, die … Er wollte dem undeutlichen Gedanken noch ein Wort, das wahre, das schwierige Wort hinzufügen, aber dann fiel ihm wieder ein, dass er nicht mehr nachzudenken brauchte, nichts mehr brauchte, nichts … Sie würde gleich da sein. Gleich. Hör doch: gleich … So war es: Joana hatte ihn befreit. Er brauchte immer weniger zum Leben: Er dachte weniger, aß weniger, schlief kaum noch. Sie war immer. Und würde gleich kommen.
Er schloss die Augen noch fester, biss sich auf die Lippen, schmerzerfüllt, ohne zu wissen, warum. Er öffnete sie wieder, und im Zimmer – im leeren Zimmer! – konnte er plötzlich keinen Hinweis mehr darauf entdecken, dass Joana einmal dort gewesen war. Als sei ihre Existenz eine Lüge … Er stand auf. Komm, rief etwas Brennendes, Tödliches in ihm. Komm zu mir, wiederholte er leise, voller Furcht, mit verlorenem Blick. Komm doch …
Fast unhörbare Schritte traten dort draußen auf trockene Blätter. Joana war wieder da … Wieder hörte sie ihn von weitem.
Er stand aufrecht neben dem Bett, mit abwesendem Blick, ein Blinder, der eine ferne Musik hört. Sie kam näher und näher … Joana. Ihre Schritte wurden immer wirklicher, die einzige Wirklichkeit, Joana. Jäh wie ein Dolchstoß brach der Schmerz in seinem Körper aus, erleuchtete ihn mit Freude und Verblüffung.
Als die Tür sich für Joana öffnete, hörte er auf zu existieren. Er war tief in sich hineingeglitten, schwebte im Dämmerlicht seines eigenen, unverdächtigen Waldes. Jetzt bewegte er sich schwerelos, und seine Gesten waren einfach und neu. Die Pupillen dunkel und geweitet, plötzlich ein zartes Tier, erschrocken wie ein Reh. In der Zwischenzeit war die Atmosphäre so durchsichtig geworden, dass er jede Bewegung eines Lebewesens in seiner Nähe wahrnehmen würde. Und sein Körper war nicht mehr als frisches Gedächtnis, in das wie zum ersten Mal Empfindungen eingegossen würden.
Das kleine weiße Schiff schwamm auf großen, grünschimmernden und missglückten Wellen – er sah sie daliegen und das kleine Bild an der Wand betrachten.
»Am dritten«, fuhr Joana fort und gab ihrer Stimme einen klaren, leichten Ton, mit kleinen runden Pausen, »am dritten gab es einen großen Umzug zu Ehren derer, die geboren wurden. Es war sehr komisch, die Menschen singen und Fahnen voller Nicht-Farben schwenken zu sehen. Da richtete sich ein Mann auf, sanft und schnell wie eine Brise, die weht, wenn man traurig ist, und sagte aus der Ferne: Ich. Niemand hörte es, aber er war es fast zufrieden. Da kam der große Sturm aus dem Nordwesten auf und stapfte mit feurigen Füßen über alle hinweg. Alle gingen nach Hause, welk und ausgetrocknet von der Hitze. Sie zogen die Schuhe aus und lockerten die Kragen. Alles Blut floss langsam und schwer durch alle Adern. Und ein großes Nichts-zu-tun-Haben schleppte sich durch die Seelen. In der Zwischenzeit drehte sich die Erde weiter. Da wurde ein Kind, das ein Name hieß, geboren. Er war schön, der Junge. Große, sehende Augen, schmale, fühlende Lippen, mageres, fühlendes Gesicht, hohe, fühlende Stirn. Ein großer Kopf. Er lief wie jemand, der den Ort genau kennt, schlängelte sich mühelos durch die Menge. Wer ihm folgte, kam auch durch. Wenn er gerührt war, wenn er überrascht war, schüttelte er bedächtig verneinend den Kopf wie jemand, der mehr
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