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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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Anfang eines Wortes. Sie verschmolzen beide in der Stille. Allmählich hörte er auf zu tasten, seine Augen ruhten tiefer auf dem Körper der Frau, sachte nahmen sie von ihm und seiner Erschöpfung Besitz. Er betrachtete sie und vergaß dabei sich selbst und seine Schüchternheit. Joana fühlte, wie er in sie eindrang, und ließ ihn gewähren.
    Als er sprach, richtete sie sich unmerklich auf. Die Zeit, die verstrichen war, erschien ihr sehr lang, aber als er die ersten Worte sprach, ohne den Versuch, eine Unterhaltung zu beginnen, wusste sie, dass sie sich in Wahrheit unermesslich weit vom Anfang entfernt hatte.
    »Ich wohne in dem Haus da«, sagte er.
    Sie wartete.
    »Wollen Sie sich ausruhen?«
    Joana nickte, und er betrachtete stumm den hellen Schein, den ihre zerzausten Haaren um ihren kleinen Kopf legten. Er ging voran, und sie folgte ihm.
    Das Zimmer des Mannes war noch warm von den letzten Sonnenstrahlen. Er ließ die Vorhänge hinunter, und der Schatten erstreckte sich über den Fußboden bis hin zur geschlossenen Tür. Er schob einen alten, weichen Sessel für sie heran, in den sie sich mit angezogenen Beinen sinken ließ. Er selbst setzte sich auf den Rand des schmalen Bettes, das mit einem zerknitterten Laken bedeckt war. Er saß unbeweglich da, die Hände zusammengelegt, und betrachtete sie.
    Joana schloss die Augen. Sie hörte leise Geräusche, die sich irgendwo durch das Haus zogen, den leicht überraschten Aufschrei eines Kindes. Wie aus einer anderen Welt ertönte von fern der frische Schrei eines Hahns. Hinter allem plätscherndes Wasser und das keuchende, gleichmäßige Atmen der Bäume.
    Eine Bewegung in ihrer Nähe ließ sie die Augen öffnen. Zuerst sah sie ihn nicht im Halbdunkel des Zimmers. Dann konnte sie ihn nach und nach ausmachen, wie er neben dem Bett kniete und das Gesicht in den Händen wiegte. Sie wollte ihn rufen, aber sie wusste nicht, wie. Sie wollte ihn nicht berühren. Immer stärker aber teilte sich ihr die Angst des Mannes mit, und Joana regte sich in dem Sessel, wartete, dass er zu ihr sah.
    Er hob den Kopf, und Joana war überrascht. Die halb geöffneten Lippen des Mannes glänzten feucht, als erleuchtete ihn von innen her ein Licht. Seine Augen strahlten, aber es war nicht zu sagen, ob vor Schmerz oder aus geheimnisvoller Freude. Seine Stirn hatte sich nach oben verlängert, sein Körper konnte kaum das Gleichgewicht halten im Bemühen, sich zu beherrschen, nicht zu erzittern.
    »Was ist?«, flüsterte Joana fasziniert.
    Er blickte sie an.
    »Ich habe Angst«, sagte er schließlich.
    Sie sahen sich eine Sekunde an. Und sie hatte keine Angst, aber sie spürte, stärker als den Schreck, wie eine tiefe Freude von ihr Besitz nahm und sie ganz erfüllte.
    »Ich werde wieder hierherkommen«, sagte sie.
    Er betrachtete sie plötzlich entsetzt und hielt den Atem an. Für einen Augenblick dachte sie, er würde schreien oder sich irgendeine wahnsinnige Bewegung ausdenken, deren Anfang sie nicht einmal vorausahnen könnte. Die Lippen des Mannes zitterten eine Sekunde lang. Und kaum hatte er sich von Joanas Blick befreit, war davor wie ein Verrückter geflohen, versteckte er abrupt das Gesicht in den langen, mageren Händen.

DIE ZUFLUCHT BEI DEM MANN
    Joana. Joana, dachte der Mann, als er auf sie wartete. Joana, nackter Name, heilige Joana, so jungfräulich. Wie unschuldig und rein sie war. Er sah ihre kindlichen Züge vor sich, die Hände, die beredt waren wie die eines Blinden. Sie war nicht hübsch, jedenfalls hatte er sich im Mannesalter nie jemanden erträumt wie dieses Geschöpf, hatte sie nie erhofft. Vielleicht war er ihr deshalb auf der Straße so oft gefolgt, ohne je ihren Blick zu erwarten, vielleicht … Er wusste es nicht, er hatte sie immer gern gesehen. Sie war nicht hübsch. Oder doch? Wie sollte er das wissen? Das herauszufinden war so schwer, als hätte er sie nie gesehen, als hätte er sie nicht so oft umarmt. Eine Androhung von Verwandlung im Gesicht, in den Bewegungen, jeden Augenblick. Sogar wenn sie ruhte, war sie etwas, das sich gleich aufrichten würde. Und was verstand er jetzt und was fühlte er auf so wundersame Weise, als hätte sie es ihm erklärt?, fragte er sich. Er schloss die Augen, die Arme neben sich ausgestreckt auf dem Bett. Aber nur bis zu dem Moment, in dem draußen Joanas Schritte ertönten. Denn er hatte nie gewagt, sich in ihrer Gegenwart gehenzulassen. Er beugte sich über sie, erwartete sie jede Sekunde, saugte sie auf. Er wurde es jedoch nie

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