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Nahe Null: [gangsta Fiction]

Nahe Null: [gangsta Fiction]

Titel: Nahe Null: [gangsta Fiction] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathan Dubowitzki
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und -farben konnte diese Güte mit nichts konkurrieren, sich nicht herausheben, und war darum unauffällig, unaufgeregt, etwas Selbstverständliches. In dieser Güte lebte der frühe Jegor, ohne sie zu bemerken, ganz so wie ein gesunder Mensch seine Herztätigkeit nicht wahrnimmt, bis er aus ihr herausgewachsen war, bis sein mit den Jahren üppiger und gröber gewordenes und innerlich verworrenes Schicksal nicht mehr in die ländliche Einfachheit passte.
    Antonina Pawlowna erschien kein gewisser Jemand auf dem Weg in die Kreisstadt, JHWH sprach aus keiner Wolke, aus keinem Sturm und keiner Finsternis mit durchdringendem Tenor zu ihr, auch nicht aus brennenden Brennnesseln; sie fastete und betete nicht, wenngleich sie Ikonen malte (nur so, des Geldes wegen) und auf ihrer Terrasse ein wenig religiöser Ficus wuchs, und doch war sie eine Heilige, davon war Jegor überzeugt. Zur Bestätigung krönte der Herr das unauffällige Leben der hl. Antonina mit einem grimmigen, langsamen, einem wahrhaften Märtyrertod. Er sandte seiner Magd eine so scheußlich schwere Krankheit, dass allein deren Erwähnung verboten sein müsste, ganz zu schweigen von den entsetzlichen Einzelheiten ihres Verlaufs, denn sie ist eine Beleidigung der Menschen. Der Herr spießte sie auf einen Haken wie einen archaischen Fisch, einen stummen, und zog sie zu seinem Ufer am Milchstrom des Universums, langsam und gemächlich, auf dass sich die gefangene Seele nicht losrisse und verloren ginge. Die Schnur mal locker, mal straff, hielt er sie ein ganzes Jahr lang an der Angel. Und siehe - die Alte wurde es müde, sich an den Schmerz zu klammern, zu dem alles um sie herum geworden war. Sie konnte nicht mehr am Leben festhalten, denn das Leben war weißglühend vor Schmerz, und die Magd Gottes legte sich nieder, und Er nahm sie, holte und rettete sie.
    Jegor sah seine Großmutter am Anfang der Katastrophe, als die Krankheit sie gerade erst umkreiste, sich in ihrem vorerst noch unversehrten Körper umsah, sich zum ersten Biss bereitmachte, der noch nicht tödlich war, sondern fast freundschaftlich, so zum Kennenlernen. Diese Bemühungen des Todes, die gemessene Geschäftigkeit des Unglücks erkannte Jegor in den Augen der Großmutter und fragte, unklar, wen: »Wofür? Wofür wird sie so gestraft?«
    Dann verließ er das Institut, dessen Namen er sich seit seinem Studienbeginn nicht hatte merken können, meldete sich zum Dienst in der Sowjetarmee und erhielt dort, wo er sich die armseligen Tage eines jungen Soldaten verkürzte, die Nachricht vom Hinscheiden Antonina Pawlownas. Staub zu Staub, wahrlich, so ist es, Amen. Jegor ging in den Maschinenpark, wohin sich unbeständige »Geister« wie er von den »Mühen und Entbehrungen des Militärdienstes« zurückzogen, und durchlebte vier Stunden lang seinen ersten erwachsenen Kummer - still und bescheiden, wie es sich gehört.
     

7
    Im herbstlich-winterlichen Moskauer Teil seiner Biographie beendete Jegor ganz normal eine ganz normale Schule und ging an das oben erwähnte, ihm selbst wenig vertraute, erstbeste Institut. Er studierte mühelos, mit guten Leistungen, aber ohne Eifer. Für die Wissenschaften, wie wohl für alles Hochgeschätzte, hegte er eine unerklärliche herablassende, spöttische Neugier, wie für Provinzsehenswürdigkeiten, vor denen lärmende Gruppen ärmlicher Touristen herumstehen. Unausgefüllte Zeit hatte er viel, und er nutzte sie für Freundinnen, Freunde und außerdem - in der Metro, vorm Einschlafen, beim Essen, vor und nach dem Sex, je nach Wein- oder Wodkakonsum - zum Lesen, zum Lesen von Schmökern, Wälzern, Büchlein, Heftchen und einfach Büchern, anfangs wahllos, mit derselben spöttischen Neugier, dann immer selektiver, gezielter.
    Im vorigen Jahrtausend, als sich seine literarischen Gewohnheiten herausbildeten, war es noch üblich, Romane zu lesen. Das sind so dicke Papierbücher, bis zum Anschlag mit Myriaden von Buchstaben vollgestopft. In jenen fast sagenhaften Jahren gab es in Russland noch Wunderleser, die
Krieg und Frieden
,
Das Leben des Klim Samgin
bewältigten, ja, sogar
Das Glasperlenspiel
in beliebiger Übersetzung. Allerdings - womit sollten sich die rechtgläubigen, kostenlos zu Bildung gekommenen und von den lethargischen Partei-Partys gut ausgeschlafenen Marxianer auch sonst beschäftigen? Die Freizeit ließ sich noch irgendwie ausfüllen, aber was sollte man auf der Arbeitsstelle tun? Da konnte man ja nicht einmal richtig trinken. Also lasen sie. Wobei die

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