Nahkampf der Giganten
hob er den Kopf und sah die Brustwehr. Sie war so nahe, daß er Grasbüschel und winzige blaue Blumen sehen konnte, die zwischen den wetterzerklüfteten Steinen wuchsen, und auch die hellen Narben neben den Schießscharten, Spuren des ersten Angriffs der
Hyperion.
Als er sich über den Grat zog und so schnell wie möglich an den Fuß der Brustwehr kroch, kam er sich nackt und schutzlos vor. Jeden Moment konnte der Anruf eines Postens erfolgen oder eine Musketenkugel ihn tödlich in den Rücken treffen. Die nächste Schießscharte lag nur ein paar Fuß über der Klippe. Er wagte kaum zu atmen, als er sich langsam auf die Knie hob und über ihren Rand spähte. Eine Sekunde lang vergaß er die Gefahr, in der er sich befand, und die Verantwortung für das Kommende und fühlte sich merkwürdig unbeteiligt, wie ein bloßer Zuschauer, distanziert von Wirklichkeit und Schmerz, von Raum und Zeit.
Beim Bau der achteckigen Mauer, die das Zentrum der Festung umgab, hatte man sich weniger um sichere Fundamente gekümmert, sondern so gebaut, daß sie sich dem bergigen Gelände anpaßte, als könne nichts sie jemals erschüttern. Bolithos Schießscharte war eine der höchsten der Mauer, und durch sie konnte er über den massigen Festungsturm hinaus bis zum äußersten Ende der Batterie sehen. Er erkannte sogar die Straße, die zwischen den Bergen unterhalb des Tores verschwand, und die wimmelnden Gestalten der keuchenden, halbnackten Soldaten, die immer noch Kugeln zu den auf See gerichteten Geschützen schleppten. Selbst im Sonnenglast war zu erkennen, daß die Kugeln heiß waren, und obwohl jede einzelne von zwei Soldaten in einem eisernen Gestell getragen wurde, beugten die Träger ihre Oberkörper von der Hitze weg, während sie über den steinigen Boden trabten.
Bolitho hörte, wie sich die Matrosen in seinem Rücken über den Klippenrand quälten, und vernahm Rookes geflüsterte Drohungen und Befehle. Rechts und links von ihm faßten sie Posten. Aber er drehte sich nicht um. Er sah sich genau die flache Erdschanze unterhalb der Festungsmauer an, in der die Munitionsträger wie geschäftige Maulwürfe verschwanden. Dort lag zweifellos das Magazin und die Feuerstelle, geschützt von mächtigen Erdaufschüttungen für den Fall, daß ein feindliches Geschoß dank eines blinden Glückstreffers einschlagen sollte.
»Alle da, Sir«, meldete Rooke. Er hatte einen Riß in der Wange, und seine Augen glühten – vor Überanstrengung oder unterdrückter Spannung.
»Gut.« Bolitho erstarrte und preßte das Gesicht an den warmen Stein. Von weit weg vernahm er gedämpft die Trommeln und Pfeifen von Ashbys Abteilung. Fast vergaß er seine eigene gefährliche Situation, als er in der Ferne die scharlachrote Marschkolonne mit dem stolz trabenden Grauschimmel an der Spitze um die Wegbiegung kommen sah. Die roten Uniformröcke der MarineInfanteristen schienen waagrecht vorwärtszugleiten, nur die weißen Hosenbeine darunter bewegten sich im Gleichtakt. So sah die auf dem gewundenen Pfad anmarschierende Kolonne tatsächlich wie eine glänzendrote Raupe mit stählern-stachligem Rücken aus. As hby hatte seine Sache gut gemacht. Die einzelnen Gruppen marschierten, wie Bolitho befohlen hatte, in Abständen, so daß man glauben konnte, sie seien weit zahlreicher. Jetzt konnte er auch das Ende der Kolonne sehen: Inchs Matrosen, eine schwankende, auseinandergezogene, weiß und blaue Masse in einer ordentlichen Staubwolke, die auf eine viel stärkere Truppe schließen ließ.
»Wie stark sind die Franzosen, Sir?« fragte Rooke. Bolitho kniff die Augen zusammen, um die französischen Artilleristen besser beobachten zu können, die eben jetzt die anrückende Kolonne erstmals gesehen hatten. Etwa fünfzig Soldaten befanden sich seiner Meinung nach in der Batterie. In der Festung selbst konnten zweimal, ja dreimal so viele sein. Doch das bezweifelte er. Nur wenige Köpfe hoben sich, soweit er sehen konnte, vom Himmel ab; außer diesen erkannte er nur noch ein paar Soldaten auf dem einen Wachturm neben dem Doppeltor.
»Stark genug für ihre Zwecke, Mr. Rooke«, erwiderte er. Auch die Verteidigungskräfte jenseits der Mauer hatte er gesehen. As hbys Truppe würde sich mit denen auseinandersetzen müssen, falls sein eigener Plan schiefging und Ashby angreifen mußte. Zwei steile Dämme, einer davon schien neu zu sein. Zwar konnte er von hier aus nichts erkennen, aber bestimmt waren sie mit zugespitzten Pfählen und anderen Hindernissen armiert. Jede
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