Naked - Hemmungslose Spiele (German Edition)
aus, als gehörte ihr der Parkplatz. Die Leute drehten sich zu ihr um, und ich beneidete sie um ihr Selbstbewusstsein.
Ich beneidete sie auch um die Fähigkeit, immer zu sagen, was sie dachte, und zu denken, was sie sagte.
Mein Handy klingelte, während ich ihr nachschaute, und ich holte es aus der Tasche. Ich kannte die Nummer, und das Foto dazu war mir nur zu vertraut. Aber statt Patricks Anruf anzunehmen, drückte ich ihn weg und steckte das Handy wieder ein.
Der Nachmittagsgottesdienst in der Gemeinde Ahavat Shalom war nicht besonders gut besucht, aber das war mir ganz recht. Weniger Leute, mit denen ich Small Talk machen musste. Ich war seit Monaten nicht mehr da gewesen, aber ich setzte mich auf meinen gewohnten Platz, weit vorn und an der Seite, sodass ich den Rabbi beobachten konnte. Die meisten Gemeindemitglieder saßen hinter mir, und auch das war gut so, denn ich sang bei den meisten Gebeten nicht mit – zumindest nicht laut. Ich lernte sie erst noch.
Heute reichte es mir, die Gebete mitzusummen, ohne mich allzu sehr daran zu versuchen, die hebräischen Worte zu stammeln. Ich musste ohnehin immer auch die Übersetzung lesen, um zu verstehen, worum es ging. Andererseits ging ich ja auch nicht in die Synagoge, um gedankenlos irgendwas vor mich hin zu murmeln. Wenn ich das wollte, konnte ich in die Kirche gehen.
„Shalom, Olivia.“ Rabbi Levin nahm meine Hand in seine beiden und schüttelte sie. Er scherte sich nicht darum, dass unverheiratete Männer und Frauen einander nicht berühren sollten. „Wir haben dich eine Weile nicht mehr hier gesehen.“
„Shalom, Rabbi. Ihre Predigt heute hat mir gefallen.“ Beim Nachmittagsgottesdienst gab es gewöhnlich keine Predigt, aber Rabbi Levin hatte kurz über Neuanfänge gesprochen. Darüber, was ein Neubeginn bedeutete, und dass das neue Jahr, auch wenn es das weltliche war, für traditionelle Juden, die ihr Neujahr erst im Herbst feierten, eine zweite Chance war. „Mir gefällt, was Sie darüber erzählt haben, dass wir ruhig die Feiertage der Gemeinde mitfeiern können, auch wenn sie genau betrachtet nicht unsere sind.“
„Wir müssen eben in dieser Welt leben. Ja, es ist wichtig, als Juden unser Erbe und unsere Identität zu bewahren. Aber zumindest hier in Harrisburg leben wir nun mal nicht in einer Gemeinschaft, in der alle dasselbe glauben wie wir. Da ist es wichtig, zu erkennen, wie wir weltliche und religiöse Aspekte unseres Lebens unter einen Hut bringen können.“ Rabbi Levin schmunzelte. „Freut mich, dass Ihnen die Predigt gefallen hat.“
Er berührte meine Schulter und ging weiter, um andere Gemeindemitglieder zu begrüßen.
Wir müssen in dieser Welt leben. Das konnte ich verstehen. Und es würde mir auch gelingen, meine Identität zu bewahren. Wenn ich nur endlich wusste, wie diese Identität aussah.
Die ersten Male, als ich hier zum Gottesdienst kam, hatte niemand gewusst, was er zu mir sagen sollte. Ich hörte, wie ein paar Leute diskutierten, ob ich wohl eine „äthiopische Jüdin“ sei, aber niemand brachte den Mut auf, mich einfach zu fragen. Ich wusste, wie ich mit meiner milchkaffeebraunen Haut und den schulterlangen Dreadlocks wirkte. Ich passte nicht zu diesen Frauen in teuren Hosenanzügen und den Männern mit ihren handgewebten Gebetsmänteln. Sie konnten ja nicht wissen, dass ich zumindest halb jüdisch erzogen worden war. Ich konnte mich an eine Kindheit erinnern, in der wir den Chanukkaleuchter anzündeten und den Dreidel drehten. Ich hatte aber früher auch auf dem Schoß des Weihnachtsmanns gesessen. Für die Leute hier war ich jedenfalls unheimlich.
Als ich hingegen das erste Mal zur Messe ging, drehte sich der Mann neben mir in der Kirchenbank zu mir um und schüttelte mir so herzlich die Hand, dass ich fast fürchtete, er würde mir die Finger brechen. Und nach dem Gottesdienst hatten sich viele Leute um mich versammelt und mich in der Kirche willkommen geheißen. Sie fragten, ob ich ein Neumitglied sei oder ob ich noch darüber nachdachte, ob ich mich der Gemeinde anschließen wollte. Sie hatten mich umringt, ihr Lächeln war strahlend und freundlich, aber auch ein bisschen verzweifelt. Diese Leute waren mir unheimlich.
Ich hatte nicht das Gefühl, hier oder dort hinzupassen. Beide Gottesdienste waren mir fremd, ebenso die Gebete. Aber ich fand in der Synagoge wie in der Kirche Trost in den Ritualen, obwohl die Botschaften beider Religionen so unterschiedlich waren.
Trotzdem zog mich irgendwas immer
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