NAM-Tech: Maschinenbrut (German Edition)
Glut spürt, obwohl seine Haut nicht mehr da ist. Ist das alles nur Einbildung? Sehnsucht? Verblendung?
Er steht in dem silbernen Fahrstuhl, der sein Bild zerbricht, seinen Blick zerstreut und die kleine Welt um ihn herum in tausend Fragmente zerteilt, um sie alle in einem schillernden Puzzlespiel zurück zu spiegeln. Müssen sich die, die mit diesem Gerät fahren, nicht die Augen zuhalten, um bei Verstand zu bleiben? Oder schalten die Menschen ab einem gewissen Grad an Reizüberflutung ab, um ihr Bewusstsein zu schützen? Rico kann seine Berechnungen nicht stoppen, kann den Winkeln, den Streuungen des Lichts und den virtuellen Linien, die er vor sich im Raum tanzen sieht, nicht Einhalt gebieten, wenn er einfach nur an die Wände starrt.
Doch die Ruhe liegt dicht an seiner Seite, stützt sich auf seine Schulter und lässt ihr weiches Haar um seine Arme spielen. Rico spürt ihre Berührung durch Gefühle, die er physikalisch nicht erklären kann, und mit Sinneswerten, die nicht von seinen Sensoren stammen. Taktile Drucksignale und Vibrationsrezeptoren liefern die harten Fakten, ebenso wie die Temperaturkurven, die in seinen Archiven abgelegt werden. Aber die Erfahrung von Wärme und Kälte, die er einmal als menschliches Wesen gekannt hatte, war seit der Zeit in den Kellern verloren gewesen. Bis zur Begegnung der vergangenen Nacht.
Ihr Name ist Amirah, und Rafah, die sich in Kummer und Tränen mit Spicewine betrunken und neben ihm an der Bar die Besinnung verloren hatte, war ihre Schwester. Die mechanischen Arme hatten sie mühelos von der Stelle getragen, doch nach einem Meter war Rico stehen geblieben, nicht wissend, ob er es überhaupt vermochte, der besorgten Frau durch die wogende Menge zu folgen. Bevor ihre Gestalt in den lichtschluckenden Zwischenräumen verschwunden war, um ihn orientierungslos mit der Weggetretenen zurückzulassen, drehte sie sich erneut zu ihm um und sah ihm ins Gesicht. Funkelnde Augen brannten sich in seine Speichersteine ein. Feine Striche über den Lidern, weiche Züge, weiche Wangen, weiche Lippen. Organisches Gewebe, schwach und verletzlich. Lange, schwarzrote Seidensträhnen beiderseits der Stirn, entlang der Gesichtskonturen bis zum Hals, bis zur Kehle. Die Farbe vierundzwanzig auf der Melanin-Skala von Luschan zeigte sich auf ihren runden Schultern, die aus einem dunklen See hervorschauten, einen Riss in ihr Gewand aus schwarzen Ölfeldern schnitten und als lange, ringgeschmückte Arme auf ihn zukamen. Ohne ein Wort zu wechseln, nahm sie seine freie Hand und führte ihn durch das dröhnende Chaos der leuchtenden Inseln.
Anfangs irritierte es ihn umso mehr, dass er nur die Zahlen registrierte. Zahlen für Pressionswerte, Zahlen für Vibrationswerte, aber kein Gespür für das Weiche, kein Erlebnis von Haut auf Haut und der verbindenden Wärme in ihrer sanft lenkenden Hand. Während er wie blind durch die Hölle stolperte, eine nicht spürbare, nur messbare Last in seinem Arm und eine Feder in seiner nach vorn gerichteten Hand, kam es langsam wieder zu ihm, und er kämpfte und rang, um es vollends wiederzuerlangen. Das Gefühl, der Eindruck, die Erfahrung der menschlichen Wärme ihrer Berührung.
Heraus aus den unsichtbaren Gewässern rund um die Inseln waren sie in seidenbehangene, hohe Durchgänge gekommen, Marmorsäulen links und rechts, Illusionsfenster zu beiden Seiten. Südseewellen und Tropenbäume, rote Canyonläufe und weiße Wolkenteppiche, Sprenkelgalaxien und Miniaturlandschaften tauchten auf, verschwanden hinter der nächsten, massigen Säule und füllten Ricos Speicher mit Bildern aus einem bunten Kabinett. Über gewundene Stufen und rollende Bodenplatten hinweg gelangten sie schließlich zu einem weitläufigen Gemach, das sich ihnen in einem schummrigen Halbdunkel geheimnisvoll öffnete.
Die Frau wartete, nachdem sich die Tür beiseitegeschoben hatte, bis er die stumme Last in die Mitte des Raumes getragen hatte, ließ dann die Wand wieder zurückgleiten und erzeugte auf unsichtbare Weise einen ockergelben Schimmer im Raum. Sie nahm den Arm ihrer zusammengesackten Schwester und führte sie und Rico zum breiten, schwarzen Diwan, der vor ihnen lag. Erst als die menschliche Masse von ihm genommen war und die Frau sich noch bemühte, einige Tücher und Decken über die Schlafende zu legen, trat Rico zurück und ließ seinen Blick über den glühenden Raum gehen.
Links von der Schlafstätte standen kleine Kommoden und niedrige Schränke voller fein gearbeiteter
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