Nanking Road
um England auszuhungern und zur Kapitulation zu zwingen. Währenddessen ließ der Duce seine Truppen in Afrika einmarschieren, was die freie Durchfahrt durch die Meerenge von Gibraltar und den Suez-Kanal gefährdete.
Das Erste, was wir davon bemerkten, war dass der Post- und Frachtverkehr ins Stocken geriet. Selbst die Bewohner des Settlements, die auf europäische und amerikanische Luxusgüter nie hatten verzichten müssen, standen in den Kaufhäusern mit einem Mal vor leeren Regalen – und ich stand vor unserem leeren Postfach. Keine Nachricht von Onkel Erik, Tante Ruth und Evchen, keine Briefe von Bekka oder ihren Eltern. Aus dem Radio konnte man zwar erfahren, wo die Kriegsparteien aufeinandertrafen, aber ob Freunde und Verwandte betroffen waren, wussten wir nicht.
Ich war froh, dass wir wenigstens niemanden in London kannten. Tag und Nacht schickte der Fü seine Bomber in die britische Hauptstadt. Frau Fränkel wandelte wie ein Gespenst durchs Haus und murmelte zusammenhanglos vor sich hin, saß mal auf der Treppe, mal starrte sie reglos von der Dachkante in die Tiefe. Herr Fränkel hatte es aufgegeben, sie davon zu überzeugen, dass Jakobs Londoner Pflegeeltern ihn bestimmt, wie verabredet, in Sicherheit gebracht hatten. Wenn Herr Fränkel von der Arbeit kam, nahm er jetzt direkt Kurs auf Café Piefke , wo er bis zur Sperrstunde blieb.
Sie stritten nicht einmal mehr. Nur einmal hörte ich ihn auf dem Dach über mir laut werden. »Dann spring doch endlich!«, schrie er plötzlich und ich kniff die Augen zusammen, hielt mir die Ohren zu und den Atem an, und als ich nach endlosen schwindligen Sekunden wieder zu lauschen wagte, war ich erleichtert, Frau Fränkels lautes Weinen zu hören.
Und dennoch lag alles, was in Europa passierte, in weiter Ferne, bis Ende September eine weitere beunruhigende Botschaft eintraf: Japan hatte ein Bündnis mit Deutschland und Italien geschlossen. Wie alles zusammenhing, begriff ich allerdings erst, als Miss Schmidt eine große Weltkarte in den Klassenraum mitbrachte.
»Das ist das Britische Weltreich«, erklärte sie. »Die Kriegserklärung Englands schloss nicht nur die Kronkolonien in Hongkong, Indien und Malaya mit ein, sondern auch …«
Plopp, plopp, plopp machte es, als sie angefeuchtete gelbe Papierschnipsel an den entsprechenden Stellen auf die Karte klebte.
»… Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland, selbst wenn diese Deutschland den Krieg formell eigenständig erklärt haben. Und nun kommt Italien ins Spiel. Der Duce wittert die Gunst der Stunde, sich die afrikanischen Kolonien der Engländer einzuverleiben. Er hat seine Truppen just in dem Moment in Afrika einmarschieren lassen, als die vereinigten britischen Truppen in Europa praktisch allein gegen die Deutschen kämpften. Zweifellos hat Mussolini mit wenig Widerstand gerechnet, aber da hat er sich getäuscht.«
Mit weiteren leisen Plopps landeten rote Papierschnipsel dort, wo Italien und die Truppen des britischen »Commonwealth« aufeinandertrafen. Aber das war noch nicht alles. Wir standen im Halbkreis um Miss Schmidts Karte herum und konnten buchstäblich zusehen, wie der Krieg, der in Europa begonnen hatte, sich auf den Weg zu uns machte.
»Auch Frankreich – die blauen Schnipsel – ist eine Kolonialmacht. Französische Kolonien findet ihr in West- und Zentralafrika, auch große Teil der Inselwelt des Indischen Ozeans und Ozeaniens gehören dazu. Aber die wichtigsten französischen Kolonien befinden sich hier.«
Plopp, plopp, plopp, sahen wir Indochina unter blauen Schnipseln verschwinden und dem Letzten von uns dämmerte allmählich, was das bedeutete. Shanghai war praktisch umgeben von blauen und gelben Punkten. Wo kein Papier klebte, waren Japan oder die von Japan besetzten Teile Chinas.
»Sind das die Länder, für die sich die Japaner interessieren?«, fragte jemand.
»Ganz genau«, sagte Miss Schmidt. »Von den geschlagenen Franzosen erwarten sie keine Gegenwehr. Die Franzosen haben ein kleines Heer und eine Exilregierung nach Großbritannien gerettet, aber ihre Kolonien können sie nicht mehr schützen.«
Ich beugte mich vor und identifizierte Teile Vietnams, die Philippinen, Neu-Guinea.
»Ein Weltreich«, fuhr Miss Schmidt fort, »braucht immer Versorgungsregionen, um die wachsende Bevölkerung ernähren zu können. Deshalb hat Hitler Osteuropa überfallen, und deshalb will Japan an die Philippinen, Malaya, Indochina und Indonesien heran. Um diese entfernten Versorgungsregionen zu
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