Nanking Road
und ihre Eltern auch. Niemand an ihrer Straßenecke hat überlebt.«
»Können Sie mir das erklären?«, fragte Mr Tatler meinen Vater, ohne uns ins Haus zu bitten. Er sah aus, als hätte er seit Wochen nicht geschlafen. »Wir haben Ihnen geholfen, und jetzt sind Sie und die Kinder in Sicherheit und meine Frau ist tot, umgebracht von den Deutschen. Wo ist da die Gerechtigkeit?«
»Ich bin sicher«, sagte Papa leise, »alles Gute, was Ihre Frau getan hat, wird ihr von Gott vergolten werden.«
»Kommen Sie mir nicht mit dem Quatsch«, erwiderte Mr Tatler verbittert. »Wenn ich nicht schon wüsste, dass es keinen Gott gibt, dann wüsste ich es spätestens jetzt.«
Er wandte sich ab und ging zurück ins Haus.
Auf dem Heimweg versuchte mir Papa zu erklären, dass wir bloß den falschen Zeitpunkt erwischt hatten; Mr Tatler befinde sich in der zornigen Phase seiner Trauer und wenn wir in ein paar Wochen noch einmal hingingen, würde er uns bestimmt anders empfangen. Aber mein Vater sah nicht aus, als ob er selbst daran glaubte.
Ich versuchte mich an Mrs Tatler zu erinnern, doch ihr Gesicht war bereits verblasst, obwohl sie auf der Scharnhorst wochenlang neben mir am Tisch gesessen hatte. Mittelbraune Löckchen hatte sie gehabt, die während der Fahrt durch den Indischen Ozean von der Sonne ausgebleicht worden waren, aber viel mehr stand mir nicht mehr vor Augen. Es war ihr Mann gewesen, der das Wort geführt hatte, und Mr Tatlers Liste , obwohl Mrs Tatler wahrscheinlich sogar mehr getan hatte als er.
Mein Herz wurde schwer, innerlich bat ich Mrs Tatler um Verzeihung, dass ich ihr Gesicht vergessen hatte. Und ich hoffte, dass sie im Gegensatz zu ihrem Mann wusste, dass wir keine Schuld an ihrem Tod trugen.
An diesem Abend steckte ich Bekkas Briefe in einen großen Umschlag und legte zwei dicht beschriebene Seiten bei, auf denen ich berichtete, was in der Zwischenzeit bei uns geschehen war. Ich entschuldigte mich, dass meine Eltern und ich ihre Post gelesen hatten, und fügte hinzu, dass sie unsere Sorge um Onkel Erik und die anderen jedoch bestimmt verstehen könne. Schließlich hatte sie in jedem ihrer Briefe selbst geschrieben: »Mami, ich werde verrückt, wenn ich nicht bald Post von euch bekomme und weiß, dass es euch gut geht.«
Ich klebte den Umschlag zu. Um Strom zu sparen, saßen wir bei Kerzenschein um den Tisch, und während ich im flackernden Licht Bekkas Namen auf den Umschlag schrieb, spürte ich plötzlich, wie eine Flut von Tränen in mir aufwallte. Ich wollte ihr nicht mehr schreiben, ich wollte mit ihr reden, ihre Stimme hören! Seit zwei Jahren hatten wir einander nicht mehr gesehen und mit einem Mal hatte ich das alles so satt, dass mir beinahe schlecht wurde.
Zumal Bekka meinen Namen in ihren Briefen nicht ein einziges Mal erwähnt hatte. Konnte es sein, dass auch mein Gesicht bereits verblasste, dass sie nach all der Zeit anfing, mich zu vergessen? Ich konnte nur hoffen, dass, da auch meine Post vermutlich nicht bei ihr angekommen war, es einfach nichts gegeben hatte, was sie ihren Eltern über mich hätte berichten können.
Die Zeiten, in denen ich mich länger im Settlement aufgehalten hatte als irgend nötig, waren vorbei. Überall machten sich Japaner breit und zeigten, wer die neuen Herren in der Stadt waren; deutsche Nazis schritten selbstbewusst mitten auf dem Bürgersteig und zwangen Passanten, ihnen auszuweichen. Der Public Garden erinnerte mich an Judith, das Reisebüro an meine vermissten Verwandten und die Fahnen am deutschen Konsulat wehten wieder bedrohlicher, seit der Fü und seine Verbündeten uns ein Stück näher gerückt waren.
Nachdem ich Bekkas Umschlag zur Post gebracht hatte, schaute ich dennoch bei Frau Kepler vorbei. Diese sprang auf, als sie mich sah.
»Habt ihr etwas gehört?«, empfing sie mich.
Ich schüttelte den Kopf und sah Enttäuschung und Sorge auf ihrem Gesicht. Noch nie hatte Frau Kepler einen Reisenden unterwegs verloren. Bei Papas und meinem letzten Besuch im Dezember hatte sie uns noch einmal genau erklärt, welche Visa und Bescheinigungen sie Onkel Erik mit auf den Weg gegeben hatte und bis wohin er mit dem jeweiligen Papier gekommen wäre.
»Von Eydtkau in Litauen ist man schnell in Moskau.« Frau Keplers Zeigefinger war beinahe vorwurfsvoll über die Weltkarte gefahren. »Von dort geht es nach Tschita, wo man in die Ostchinesische Eisenbahn nach Harbin in der nördlichen Mandschurei umsteigt. Der Zug geht bis Wladiwostok und von dort fahren die
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