Nanking Road
Schiffe über Kobe oder Yokohama in nur drei Tagen nach Shanghai. Nachdem Ihr Schwager es bis Litauen geschafft hatte, hätte es kein Problem sein dürfen, auch wieder zurückzukommen. Die ganze Familie hatte gültige Transitvisa für Lettland, Litauen, die Sowjetunion, die Mandschurei und Japan.«
Mit angehaltenem Atem sah ich mich dem riesigen Gebiet gegenüber, in dem meine Verwandten verschwunden waren. Der Weg, den mein Onkel zurückgelegt hatte, bis sich seine Spur verlor, umfasste beinahe die halbe Weltkarte.
»Ich fürchte«, sagte Papa leise, »sie haben einander schon ganz am Anfang verpasst. Meine Schwägerin und die Kleine sind vielleicht gar nicht in Eydtkau angekommen und dann wird er … hoffentlich nicht … versucht haben, nach Berlin zu gelangen. Vielleicht haben sie nicht einmal rechtzeitig die Nachricht erhalten, dass sie losfahren sollten.«
»Da kann ich Sie beruhigen. Meine Kollegin in Berlin hat bestätigt, dass die Fahrkarten nach Moskau abgeholt worden sind, auch die Ausreisepapiere waren in Ordnung. Warum sollten die beiden danach nicht in Eydtkau angekommen sein? Ich habe mich erkundigt, ob eins der Papiere, die ich für Ihren Schwager besorgt hatte, im Moment, als er es brauchte, nicht mehr auf dem letzten Stand war, aber dem ist nicht so. Jede Woche kommen Leute hier an, die dieselbe Route mit denselben Papieren nehmen. Ich habe keinen Fehler gemacht.«
»Das hat auch niemand unterstellt«, versicherte mein Vater. »Und wenn, wie Sie sagen, Leute immer noch über diese Route kommen, sollte ich vielleicht versuchen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Womöglich hat jemand meinen Schwager gesehen.«
»Das kann durchaus sein.« Frau Keplers Gesicht hellte sich auf. »Versuchen Sie es – und lassen Sie mich wissen, was Sie herausbekommen!«
Seitdem war mein Vater in jeder freien Stunde unterwegs, um Juden zu finden, die in den letzten Monaten über Russland geflüchtet waren. Es waren Hunderte, darunter eine ganze Yeshiva aus Litauen, der ein Konsul in Kaunus unmittelbar vor der Schließung der niederländischen Vertretung noch Transitvisa für die Kolonie Curaçao ausgestellt hatte. Die Japaner hatten die Talmudstudenten stattdessen nach Shanghai abgeschoben.
Doch niemand von ihnen erinnerte sich, unsere Verwandten gesehen zu haben. Mittlerweile vermutete Frau Kepler, dass Onkel Erik oder Tante Ruth auf der Reise die Papiere gestohlen worden waren. Transitvisa waren das Kostbarste, was man in diesen Zeiten besitzen konnte, und während Frau Kepler sie ein weiteres Mal aufzählte, entfuhr ihr plötzlich: »Dieser verdammte Krieg! Mein Wissen, meine Erfahrung, meine Kontakte … alles nichts mehr wert.«
Als ob der Krieg allein dem Ziele diente, den Inhabern von Reisebüros das Leben schwer zu machen. Ich sah verlegen weg.
Frau Kepler hatte bei meinem Eintreffen Teewasser aufgesetzt, nun nahm sie die beiden Tassen und wir setzten uns an den kleinen Tisch unter der Weltkarte. Es war das erste Mal, dass sie sich zu mir setzte. Zögernd sagte ich: »Vielleicht haben meinem Onkel alle seine Visa einfach nichts mehr genützt, mit dem J im Pass.«
»Visum ist Visum«, meinte Frau Kepler. »Zeig einem Beamten ein Papier mit Unterschrift und er fängt gar nicht erst an zu denken. Das ist auf der ganzen Welt so. Was immer passiert ist, lag gewiss nicht daran, dass ein Kontrolleur ein Visum ignoriert hat. Und warum sollte er auch? Hitler will euch loswerden, nicht umbringen. Jedes Land, das euch aufnimmt, ist ihm recht, solange ihr euer Vermögen in Deutschland lasst. Unglücklicherweise wollen die anderen Länder euch auch nicht, zumindest nicht unter diesen Umständen. Wenn ihr am Aufnahmeort für euch selber sorgen könntet, wäre es vielleicht etwas anderes, aber verarmte Flüchtlinge lädt sich niemand auf – der große Denkfehler in Hitlers Plan, wenn du mich fragst.«
Ich hatte nicht gefragt, und schon begann ich mich in die Zeit zurückzuwünschen, in der sie den Mund gehalten hatte. War ihr eigentlich klar, dass sie gerade von mir sprach?
»Der Madagaskar-Plan liegt ja nun leider auf Eis«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »Es würde Jahre dauern, viereinhalb Millionen von euch in ein eigenes Land umzusiedeln, aber es wäre immerhin eine Lösung, mit der alle leben könnten.«
Unwillkürlich hob ich den Kopf zur Weltkarte. Wie der Zufall es wollte, saß ich direkt auf Höhe der Insel vor der afrikanischen Küste, die die Planer des Fü für die Auswanderung der Juden vorgesehen hatten.
Weitere Kostenlose Bücher