Nanking Road
Kepler war daran gelegen, miteinander gesehen zu werden, aber es gab keine andere Möglichkeit, eine so große Summe Bargeld gefahrlos quer durch Hongkou ins Settlement zu transportieren.
Herr Fränkel war unter Onkel Eriks Unterstützern, Herr Simon vom Café Piefke und der Mann von Frau Wangenheim. Selbst Onkel Victor Konitzer betrat mit grimmigem Gesicht diesen Ort, der ihm von Herzen verhasst sein musste, und stand stumm neben dem Schreibtisch, während Frau Kepler sein Geld zählte, es in eine Schatulle einschloss und quittierte. Er kam sogar zwei Mal, weil der Betrag, den er Onkel Erik lieh, so groß war, dass er nicht riskieren wollte, ihn in voller Höhe durch Shanghai zu tragen.
Als Letztes fuhr der Mitarbeiter der japanischen Schifffahrtsgesellschaft vor, der den Empfang von 800 US -Dollar bescheinigte, damit Frau Kepler unverzüglich drei Tickets ausstellen durfte für die dreitägige Überfahrt von Wladiwostok nach Shanghai. Die Fahrkarten waren vorausdatiert auf einen Tag Ende November, aber mit der Möglichkeit, sie kostenfrei für eine andere Verbindung derselben Gesellschaft umtauschen zu können.
Anschließend schüttelte der Japaner meinem Onkel die Hand und erklärte, er verstünde die Schwierigkeiten, die die Juden in Deutschland hätten, sowieso nicht. Religiöse Diskriminierung sei seinem Volk vollkommen fremd.
Ich stellte mir vor, wie Frau Kepler die drei Schiffskarten oben auf den kleinen Stapel Zugfahrkarten und Transitvisa legte und alles zu meinem Onkel hinüberschob. Ich selbst hatte natürlich nicht mitgehen dürfen ins Reisebüro, nur Papa hatte Onkel Erik begleitet.
Die Reisepapiere lagen in unserem gemeinsamen Zimmer auf dem Tisch und Mamu konnte nicht aufhören zu weinen.
»Versteh mich doch, Margot«, bat Onkel Erik. »Ich werde euch ewig dankbar sein für alles, was ihr getan habt, um mir zu helfen. Aber ich kann doch nicht nur mein Leben retten! Ich muss meine Familie holen, und wenn ich es nicht schaffe, sie hierher zu bringen, dann muss mir eben etwas anderes einfallen.«
»Wir verstehen dich«, sagte Papa gepresst. »Du hättest hier keine ruhige Minute mehr.«
»Wir sehen uns wieder«, versprach Onkel Erik, fasste Mamus Schultern und sah ihr fest in die Augen.
Ich glaubte ihm. Ende November, als das vereinbarte Schiff aus Wladiwostok eintraf, standen wir alle am Kai, um Onkel Erik, Tante Ruth und Evchen in Empfang zu nehmen. Onkel Eriks letzte Nachricht war vom Bahnhof Eydtkau in Litauen gekommen, wo er vor rund sechs Wochen in den Zug aus Berlin hätte steigen sollen, der die beiden bereits an Bord hatte.
»Sie waren noch nicht dabei«, hatte er in hastiger Schrift auf die Postkarte gekritzelt, »sie nehmen wohl den Zug nächste Woche, aber wir haben ja noch reichlich Zeit, bis wir in Moskau sein müssen.«
Wir standen am Kai, fröstelten in der kühlen Winterluft und sahen zu, wie ein Matrose die Ausstiegsrampe des Dampfers nach dem letzten Passagier mit einer Kette zusperrte.
Papa sagte: »Dann haben sie eben auch die Fährverbindung getauscht. So war es ja ausgemacht. Das Ticket kann umgetauscht werden. Vielleicht kommen sie aus Dairen.«
»Kommen wir wieder her, wenn das nächste Schiff eintrifft«, erwiderte Mamu tapfer.
In der Nacht hörte ich sie weinen und mit Papa flüstern, aber mir gegenüber versuchten sich meine Eltern nichts anmerken zu lassen. Als ob ich nicht selber ahnte, dass etwas schief gegangen sein musste! Ich starrte an die Decke, hörte die Kakerlaken an der Wand kratzen und fand keinen Trost in dem Wissen, dass dank Onkel Eriks Verschwiegenheit wenigstens niemand erfahren würde, dass alles meine Schuld war.
Den ganzen Winter gab es keinen Dampfer aus Japan, der nicht von Papa, Mamu oder mir am Kai bereits erwartet wurde. Onkel Erik, Tante Ruth und Evchen kamen nie in Shanghai an.
18
Es könnte schlimmer kommen. Diese Bemerkung hörte man häufig unter den Flüchtlingen in Shanghai, aber je länger wir hier waren, desto seltener wurde der Satz, denn es kam schlimmer und schlimmer, und niemand wollte unter denen sein, die die Katastrophen auch noch herbeiredeten.
Der Shanghaier Teil der Katastrophe begann damit, dass Japan Nordvietnam angriff. Was das für uns bedeuten sollte, war mir zunächst gar nicht klar, denn viel besorgter war die Flüchtlingsgemeinde damals über die Nachrichten aus Europa: die Großangriffe der Luftwaffe auf London und die der Royal Air Force auf Berlin, die Jagd deutscher U-Boote auf britische Handelsschiffe,
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