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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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sichern, benötigen die Japaner zusätzliche strategische Stützpunkte im Pazifik, vielleicht in Birma, Neu-Guinea oder auf den Marshall-Inseln.«
    »Die Stützpunkte lägen dann aber sehr dicht bei Australien«, wandte ich ein. »Und Australien gehört zum Commonwealth.«
    »Ganz genau!«, wiederholte Miss Schmidt und strahlte mich an. »Was meint ihr? Wo würdet ihr Truppen stationieren, um westliche Interessen im Pazifik zu verteidigen?«
    Mittlerweile standen alle dicht vor der Karte und riefen durcheinander, als ob es sich um ein Spiel handelte.
    »Auf den Philippinen!«
    »Nein, Papua-Neuguinea liegt doch direkt gegenüber von Australien!«
    »Was ist mit Malaya und Singapur?«
    Miss Schmidt trat zufrieden einen Schritt zurück. »Die Franzosen können ihre Kolonien allein nicht mehr verteidigen, aber die Alliierten werden alles tun, damit sie nicht an Japan fallen«, versprach sie. »Davon abgesehen, können die Briten sich nicht leisten, Hongkong oder Singapur zu verlieren. Das wäre ihr Ende als Kolonialmacht.«
    »Aber was wird mit Europa, wenn die Briten jetzt auch noch in Asien und Afrika kämpfen müssen?«, fragte ich. »Haben sie denn genug Soldaten für das alles …?«
    Miss Schmidt hörte auf zu strahlen. Es wurde still.
    »Wir hoffen alle auf Amerika«, sagte sie.
    In der Flussbiegung vor der Stadt lag jetzt ein japanischer Zerstörer. Die Idzumo musste sich nicht einmal vom Fleck bewegen, um zu demonstrieren, wie sich die Zeiten geändert hatten. Die Engländer hatten nur ein kleines Kanonenboot, die HMS Peterel , auf dem Huangpu zurückgelassen, als sie in aller Stille abzogen, um ihre Interessen in Hongkong und Singapur zu verteidigen. Einziges Zeichen, dass unsere einstigen Schutzmächte Shanghai nicht aufgegeben hatten, war ein kleiner Trupp US -Marines, der den immer selbstbewussteren Auftritten der Japaner im Settlement etwas entgegenzusetzen versuchte. Zu ihnen gehörte auch das zweite Kanonenboot auf dem Fluss, die USS Wake, amerikanische Zivilisten jedoch waren von ihrer Regierung aufgefordert worden, den Fernen Osten aus Sicherheitsgründen zu verlassen.
    Die Kanonen der Idzumo waren auf die Stadt gerichtet. Das mochte, wie Papa meinte, einzig der Position des Schiffes gegen den Strom geschuldet sein, aber ganz sicher war er wohl nicht. Wann immer irgendwo ein Schuss knallte, und das kam jetzt auffallend häufig vor, zuckte er nicht weniger erschrocken zusammen als Mamu und ich.
    Eine merkwürdige Stimmung hatte das Settlement erfasst. Was ich im ersten Jahr als so wohltuend empfunden hatte – das völlig selbstverständliche Gemisch von Menschen verschiedenster Nationen –, trug jetzt nur noch dazu bei, dass keiner mehr wusste, woran er war. Man blickte in wachsame, misstrauische Gesichter und in den Hafenkneipen kam es jede Nacht zu blutigen Schlägereien. Auf der Garden Bridge wurden Elwi und ich eines Nachmittags Zeugen, wie sich der japanische und britische Posten auf ihre vorgeschriebenen dreißig Meter Entfernung anbrüllten und mit gezogener Waffe bedrohten.
    Bisher hatten die einen immer so getan, als seien die anderen gar nicht da, und die blankliegenden Nerven der Soldaten trugen zu meinem mulmigen Gefühl bei, dass ein einziges Streichholz in diesen Wochen ausreichen konnte, um die Stadt in Brand zu stecken. Die ganze Welt war verrückt geworden, wie Onkel Erik vorhergesagt hatte. Es war, als rollte eine riesige Welle auf uns zu – von allen Seiten.
    Das erste Todesopfer des Krieges, das wir persönlich gekannt hatten, war Evelyn Tatler. Ausgerechnet Mrs Tatler, die geholfen hatte, Bekka und Betti bei ihren Verwandten unterzubringen, gehörte zu den über fünfhundert Zivilisten, die im November bei den Luftangriffen auf die Stadt Coventry ums Leben kamen.
    Mit zitternden Händen hatte ich Bekkas Briefe noch vor dem Postfach aufgerissen. Sie datierten von September bis November und es waren die ersten Nachrichten, die wir seit Monaten erhielten. Eigentlich waren die Briefe an Bekkas Mutter gerichtet, aber mit klopfendem Herzen ließ ich meine Augen über die Seiten fliegen auf der Suche nach den Namen meiner Verwandten.
    Nichts. Natürlich nicht. Selbst wenn Liebichs etwas von Tante Ruth wussten, wäre der Umweg über Shanghai ihre einzige Möglichkeit gewesen, es Bekka mitzuteilen. Aus Berlin war jedoch an diesem Tag, als endlich wieder Post ankam, kein einziger Brief dabei.
    Dafür las ich: »Liebe Mami, Betti und mir geht es gut, aber die arme liebe Mrs Tatler ist tot

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