Nanking Road
dem Baldachin und schrieb seinen Brief. Als er mich kommen sah, hielt er auf eine Weise inne, die mich spüren ließ, dass ich störte, aber plötzlich schien alles ganz selbstverständlich. Es gab keine Zufälle. Ziska Mangold, zur rechten Zeit am rechten Ort.
»Onkel Erik, hat dir jemand gesagt, wie man so etwas macht? Ausreisen und wieder einreisen, meine ich. Zugfahrkarten besorgen, Visa für Russland und solche Sachen?«
Ich setzte mich zu ihm. Onkel Erik sah mich aufmerksam an. »Noch nicht«, sagte er. »Aber ein Kollege in Pudong hat gehört, dass ein anderer Jude seinen Sohn aus Deutschland geholt hat. Er will sich erkundigen, wer das war und wo ich ihn finde.«
»Wenn du ihn nicht findest …«
Ich pulte mit dem Zeigefinger einen Krümel aus dem kleinen Teppich, auf dem wir saßen. »Ich kenne jemanden, der vielleicht auch weiß, was man machen muss«, sagte ich. »Nur für alle Fälle.«
»Jude …?«, fragte Onkel Erik.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich nehme an, es spielt keine Rolle«, erwiderte mein Onkel, »solange es jemand ist, dem man vertrauen kann.«
»Das kann man«, sagte ich. »Bestimmt.«
Die beste Strategie beim Lüften eines Geheimnisses, das besser keins gewesen wäre, ist so zu tun, als wäre es nie eins gewesen. Zu diesem Schluss kam ich nach mehreren Tagen des Erfindens und Verwerfens von Ausreden, die nicht einmal die erste Hürde nahmen: mich selbst zu überzeugen.
»Es bleibt am besten unter uns«, sagte ich zu Onkel Erik. »Wohin wir gehen, darf selbstverständlich jeder wissen, aber ich wäre dir dankbar, wenn du Mamu nicht erzählst, dass du die Idee von mir hast.«
»Keine Sorge«, meinte Onkel Erik. »Ich setze doch nicht das Leben meiner einzigen Nichte aufs Spiel.«
»Am besten, du sagst Papa auch nichts«, fügte ich nach kurzer Überlegung hinzu.
»Klar«, sagte Onkel Erik. »Dann könnte ich es deiner Mutter ja auch gleich selbst sagen.«
In tiefstem Einverständnis bogen wir in die Nanking Road ein und was mir seit Tagen als Sorge im Nacken gesessen hatte, kletterte in Form eines noch halb nervösen, schon halb erleichterten Kicherns in meinen Hals, als wir vor dem Reisebüro standen.
»Hier ist es«, sagte ich, als Onkel Erik nicht automatisch zu begreifen schien.
Mein Onkel trat einen Schritt zurück, las laut: »Deutsches Reisebüro«, und blickte erst das Schaufenster, dann mich ungläubig an.
Ich ging an ihm vorbei durch die Tür, hörte das vertraute Klingeln und spürte mehr, als dass ich sah, wie Onkel Erik sich unwillkürlich nach rechts und links umblickte, bevor er mir folgte. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, an die auch ich bisher immer gedacht hatte, und ich weiß nicht, warum ich es ausgerechnet an diesem Tag vergaß. Ich war wohl einfach zu aufgeregt, zu ungeduldig, zu stolz auf mich selbst.
Allerdings nicht lange. »Tun Sie’s nicht«, sagte Frau Kepler.
Onkel Erik stand auf. In wohlüberlegten Worten hatte er erklärt, was er vorhatte, und sie hatte zugehört, ohne ihn zu unterbrechen. Dies war ihre Antwort.
»Komm, Ziska«, sagte mein Onkel, aber ich konnte mich nicht rühren vor Enttäuschung.
»Warten Sie«, bat Frau Kepler und legte eine Hand auf den Tisch, als wollte sie die seine festhalten. Onkel Erik blickte stirnrunzelnd auf ihre Hand – und setzte sich wieder hin.
»Ich sage nicht, dass es nicht geht«, fuhr Frau Kepler nach kurzem Zögern fort. »Aber die Angst Ihrer Frau vor der Reise ist berechtigt, Herr Bechstein.«
»Genau deshalb soll sie sie ja auch nicht allein mit dem Kind antreten. Wenn ich die beiden in Moskau treffe und wir dort die Transsibirische Eisenbahn …«
»Den Plan habe ich verstanden«, unterbrach Frau Kepler. »Aber was, wenn Sie einander verpassen? Sie müssten deutlich vor Ihrer Familie am Treffpunkt ankommen, und alle zusammen deutlich vor dem Transsibirien-Express, damit Sie Ihre gebuchten Plätze wirklich erreichen. Es gibt Truppenbewegungen im ganzen Land, von verlässlichen Fahrplänen für den Personenverkehr kann keine Rede mehr sein.«
»Und wenn ich sie schon vorher, auf der Strecke nach Moskau treffe?«, fragte Onkel Erik. »Gibt es noch den Schlafwagen von Berlin über Kaunas?«
Frau Kepler gab dem dicken Kursbuch, das neben ihr auf dem Schreibtisch lag, einen Schubs. »Hiermit kann man höchstens noch den Ofen befeuern, seit die Sowjets das Baltikum besetzt haben. Das heißt nicht, dass es den Schlafwagen Berlin-Moskau schon nicht mehr gibt. Aber es könnte sein, dass es ihn nicht
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