Nanking Road
mehr gibt, bis Sie dort eintreffen.«
»Dann muss ich eben umso schneller los«, erwiderte Onkel Erik und sah ihr fest in die Augen.
Frau Kepler seufzte. »Wissen Sie, wie viele Grenzübergänge das sind – mit Ihrem jüdischen Pass?« Sie beugte sich vor. »Gibt es niemanden, der Ihre Frau nach Moskau bringen könnte?«
»Nein. Und mein jüdischer Pass, wie Sie es nennen, war ein ganz normaler deutscher Pass, bis Ihre Leute mir dieses verdammte J draufgestempelt haben«, sagte Onkel Erik und lief rot an.
Ich hielt den Atem an, als auch über Frau Keplers Gesicht ein Farbwechsel huschte, der Zorn verriet. »Soso. Und warum sollte ich Ihnen dann helfen, können Sie mir das verraten?«
»Es war meine Idee«, flüsterte ich.
»Ach, Ziska, das weiß ich doch«, sagte Frau Kepler und ihre Schultern sanken.
Onkel Erik machte den Mund auf und setzte an, sich für seinen unhöflichen Ton zu entschuldigen, aber sie schnitt ihm das Wort ab.
»Zusätzlich zu den Zugtickets sind pro Person vierhundert Dollar für die Einwanderung nachzuweisen. Ja, ich weiß, dass Sie das schon wissen, aber haben Sie daran gedacht, dass auch für Sie möglicherweise dieser Betrag hinterlegt werden muss, wenn Sie das Land verlassen? Können Sie überhaupt so viel Geld aufbringen, Herr Bechstein?«
»Ich werde es aufbringen«, erklärte Onkel Erik.
»Na schön.« Frau Kepler schob ein Blatt Papier zu ihm hinüber. »Ich werde mich erkundigen, welche Möglichkeiten es gibt. Schreiben Sie auf, wo ich Sie erreiche. Sie hören von mir.«
Wir standen auf der Straße. Noch vor dem Reisebüro zündete Onkel Erik eine Zigarette an. Ängstlich sah ich zu ihm auf und versuchte an seinem Gesichtsausdruck zu erkennen, ob meine Idee, hierher zu kommen, wenigstens entschuldbar dumm gewesen war.
Endlich sagte er: »Sie scheint entweder nicht zu wissen oder nicht wissen zu wollen, dass es für Juden in Deutschland gefährlicher ist, nichts zu riskieren.«
»Sie kennt sich ziemlich gut aus«, bemerkte ich kleinlaut, bevor mir der Atem stockte.
»Ich bin gespannt«, fuhr Onkel Erik fort, »ob wir wirklich von ihr hören. Glauben tu ich’s ja nicht. Sie wird die Adresse wegwerfen und hoffen, dass niemand erfährt, dass zwei Juden sie in ihrem feinen Laden mit unfeinen Sorgen behelligt haben, mit denen sie gewiss nichts …«
Er brach jäh ab und folgte meinem Blick so alarmiert, als erwartete er, dass von der gegenüberliegenden Straßenseite jemand mit einer Pistole auf uns zielte. Aber dort stand nur Judith und sah mich mit versteinertem Blick an.
Meine Gedanken überstürzten sich. Ich hörte kaum, wie Onkel Erik fragte, wer das Mädchen sei, was denn los sei, ob ich ihn nicht vorstellen wolle.
Hinterher fragte ich mich immer wieder, warum ich nicht einfach auf sie zugegangen war. »Judith, stell dir vor, mein Onkel muss zurück nach Deutschland, um seine Familie zu holen!«
Vielleicht hätte die Erklärung gereicht. Judith musste gesehen haben, wie wir im Deutschen Reisebüro verschwunden waren, und das war schlimm genug, aber ich hätte glaubhaft versichern können, dass es aus reiner Not geschehen war. Denn das Entscheidende konnte sie ja nicht ahnen: dass es nicht das erste Mal gewesen war, dass ich Frau Kepler bereits kannte.
Zu spät. Ich hätte wissen müssen, dass Lügen sich schneller auf mein Gesicht malten, als ich denken konnte. Ich stand wie angewurzelt und Judith wandte sich ab und ging.
Drei Tage später waren wir wie üblich zum Laufen verabredet, doch sie erschien nicht, und obwohl ich ahnte, dass sie auch am Kino nicht mehr auftauchen würde, machte ich am folgenden Donnerstag noch einen letzten Versuch. Aber lange wartete ich nicht. Ich wusste, dass ich auch meine zweite beste Freundin verloren hatte. Die wunderbare, außerordentliche Judith, die sich von Anfang an um mich bemüht, die mir in jeder Lebenslage geholfen hatte – aus keinem anderen Grund, als dass ich Jüdin war wie sie.
Meine Trauer war fast noch größer als nach dem Abschied von Bekka. Diesmal, da machte ich mir nichts vor, hatte ich den Verlust meiner Freundin selbst verschuldet.
Zwei Wochen später, während London von den ersten deutschen Bomben getroffen wurde, war das Deutsche Reisebüro in der Nanking Road Schauplatz eines ungewöhnlichen Zusammentreffens. Durch die Tür traten in kleinen Abständen zehn, zwölf sichtlich nervöse Männer, mal allein, mal zu zweit oder dritt, um anschließend hastig wieder zu verschwinden. Weder ihnen noch Frau
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