Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
Die Franzosen, zu deren Kolonien Madagaskar gehörte, waren nicht mehr in der Lage, Einwände zu erheben, stattdessen standen nun die Briten im Weg – an Land und auf See.
    Frau Kepler folgte meinem Blick. »Yünnan war auch lange im Gespräch«, bemerkte sie. »Das hat der Jüdische Weltkongress selbst verworfen, obwohl es sogar einen reichen Juden gab, der eine Kolonie von einhunderttausend von euch finanzieren wollte.«
    »Yünnan?« Davon hatte ich noch nicht gehört. »Wo liegt denn das?«
    Wir standen auf und Frau Kepler zeigte mir einen Streifen Land im Südwesten Chinas. »Von Shanghai aus wäre es gar nicht weit gewesen«, meinte sie. »Du und deine Eltern hättet sozusagen unter den Pionieren sein können.«
    Mit gemischten Gefühlen betrachtete ich das kleine Fleckchen Erde. »Schlimmer als Hongkou wäre es wohl nicht gewesen«, meinte ich schließlich. »Haben Sie einen Prospekt?«
    Frau Kepler lachte auf. »Du bringst mich direkt auf eine Idee«, meinte sie. »Wer weiß, was als Nächstes kommt! Man sollte vielleicht vorbereitet sein auf eine Reisewelle.«
    Wir setzten uns wieder. Mit einem Mal war sie wie ausgewechselt. »Meine Schulfreundin war auch Jüdin«, erzählte sie. »Olga Lupinski. Herrje, das ist vierzig Jahre her. Ich möchte wissen …« Sie brach ab und pustete in ihre Tasse, als wollte sie den Gedanken, was aus ihrer Freundin geworden war, doch lieber nicht weiterspinnen.
    Dann sagte sie: »Es spielte damals überhaupt keine Rolle. Ich weiß gar nicht, wie oft ich freitags bei ihnen war und den Schabbat mitgefeiert habe. An Gott glaubte ich nicht, aber die Freitagabende waren schön.«
    »Ich war auch oft bei meiner Freundin zum Schabbat«, erwiderte ich.
    »Ja, habt ihr denn zu Hause nicht …?«
    »Nein, wir sind alle evangelisch.«
    Frau Kepler sah mich zweifelnd an. »Dachten wir zumindest«, räumte ich ein. »Aber meine Urgroßeltern waren jüdisch und deshalb hat der Fü bestimmt …«
    Ich verstummte, als ich merkte, dass ich der Fü gesagt hatte, aber Frau Kepler schien es gar nicht gehört zu haben. Sie trank ihre Tasse aus und meinte: »Dann werde ich mal weiterarbeiten«, obwohl ihr und mir klar war, dass es nichts zu arbeiten gab.
    Plötzlich ärgerte ich mich doch. »Mein Vater will übrigens weder nach Madagaskar noch nach Yünnan noch nach Amerika«, bemerkte ich. »Wenn der Fü weg ist, gehen wir zurück nach Deutschland.«
    Und diesmal sprach ich den Namen des Fü so deutlich aus, dass sie es nicht überhören konnte. Es war ein gutes Gefühl.
    »Für uns«, legte ich nach und schlüpfte in meinen Mantel, »brauchen Sie also keine Prospekte. Zu Hause kennen wir uns schließlich aus.«
    An meinem zehnten, dem letzten »Berliner Geburtstag« hätte ich mir nie träumen lassen, wie ich meine nächsten Ehrentage feiern würde: in einem fremden Land, mit völlig neuen Menschen um mich herum und nicht nur »im Krieg«, sondern in einem ganz anderen Krieg als dem, den alle erlebten, die ich früher gekannt hatte.
    Doch schon an meinem 13. Geburtstag musste ich nach dem Aufwachen meinen Kopf sehr anstrengen, um mich überhaupt zu erinnern. An den Duft von Kakao, der mich in Berlin geweckt hätte, an die festliche Musik vom Grammophon und den kleinen Kuchen mit der richtigen Anzahl Kerzen auf dem Frühstückstisch. Vor meinem Teller hätten Päckchen gelegen und wenn ich aus der Schule kam, würde das Wohnzimmer schon geschmückt sein. Wie jedes Jahr würde ich, bevor die Geburtstagsgäste eintrafen, vor Aufregung kaum mein Mittagessen herunterbringen und mindestens zwei Mal nachzählen, ob auch wirklich für jeden Gast ein kleines Geschenk vorhanden war.
    An meinem 13. Geburtstag lag ich im Bett und wusste nicht, was ich mit größerem Erstaunen betrachten sollte: mein früheres Leben oder das jetzige. Statt des Dufts von Kakao stach mir der zum Niesen reizende Geruch von Kohlestaubbriketts in die Nase, da meine Mutter im Treppenhaus bereits unser Waschwasser erhitzte und mit Kaliumpermanganat desinfizierte. Statt klassischer Musik sang Herr Fränkel im Zimmer unter meinem mit jammernder Stimme seine Morgengebete, und als ich mich endlich entschließen konnte, einen Fuß auf den eiskalten Boden zu setzen, stoben Dutzende Kakerlaken die Wände hinauf wie Eisenteilchen in einem Magnetismus-Experiment.
    Es ist schwer, die Zähne zu putzen, wenn das Gebiss vor Kälte gegen die Bürste klappert. Mamu strich mit eisiger Hand über meine Wange und intonierte die ersten Takte von Happy

Weitere Kostenlose Bücher