Nanking Road
Birthday ; Papa, der diese Woche an der Reihe war, den Toilettenkübel vors Haus zu bringen, wusch sich erst einmal gründlich, bevor er mich küsste und mir gratulierte. Der Wind, der durch die Fensterritzen blies, wehte mein Nachthemd fast von selbst über den Kopf.
»Hast du beim Heraufkommen eine Katze eingesperrt, Franz?«, fragte Mamu, nachdem wir uns an den Tisch gesetzt, meine Geburtstagskerze angezündet und unser Stück Brot zu knabbern begonnen hatten, das hauchdünn mit Marmelade bestrichen war.
Wir lauschten. Tatsächlich, aus dem Treppenhaus klang leises Jammern, gleich darauf hörten wir eine Wohnungstür ins Schloss fallen und die laute, entsetzte Stimme von Herrn Fränkel: »Nein! Nein! Bist du wahnsinnig? Bring das zurück!«
»Hände weg!«, kreischte Frau Fränkel. »Fass sie nicht an!«
Stühle polterten, es klang, als verfolgten sie einander um den Tisch. Meine Mutter und ich starrten uns betreten an. »Also, so geht das nicht weiter«, erklärte Papa und stand auf.
»Vorsicht, Franz, misch dich nicht ein!«, warnte Mamu, bevor sie ebenfalls aufsprang und hinter Papa hereilte.
Na wunderbar, dachte ich enttäuscht. Nun verdarben diese Nervensägen aus dem ersten Stock auch noch das bisschen Geburtstagsfeier, das mir geblieben war! Widerstrebend folgte ich meinen Eltern vor die Tür.
»Ach du großer Gott«, hörte ich Papa auf der Treppe sagen.
Herr Fränkel stand im Treppenhaus, eine zusammengerollte Bambusmatte im Arm. Seine Frau hatte er in der Wohnung eingesperrt, der Schlüssel steckte im Schloss und man hörte sie brüllend von innen gegen die Tür schlagen. Wir waren einiges von den beiden gewohnt, aber Frau Fränkels Radau trommelte selbst Hus aus ihrer Wohnung. Wie immer bildeten Herr Hu und Oma Hu die Vorhut und der Rest der Familie drängte sich zurückhaltend im Eingang.
»Es lebt noch«, sagte Herr Fränkel ratlos und hielt Papa die Bambusmatte hin.
Herr Hu und Oma Hu begannen gleichzeitig zu reden, ein schriller Klang, der das bis eben noch leise Katzenjammern zur vollen Entfaltung brachte. Aus Leibeskräften zeterte es aus der Bambusmatte. Mir klappte der Mund auf, als ich endlich verstand.
Meine Mutter nahm Herrn Fränkel das Bündel ab, während Oma Hu energisch nach vorn drängte. »Finishee!«, erklärte sie streng und streckte die Arme aus, aber Mamu reckte das brüllende Bündel nicht weniger entschlossen in die Höhe.
»Und wie es noch lebt«, meinte sie grimmig. »Ein kleines Mädchen, das jemand einfach auf die Straße geworfen hat!«
Mir verschlug es die Sprache. Plötzlich fiel mir ein, dass ich manchmal, wenn ich am Straßenrand eins der kleinsten Bündel auf seine Abholung warten sah, dachte: Komisch, wenn man näher herangeht, hört es sich an, als ob es noch Töne von sich gibt …
Aber natürlich ging ich nie näher heran, im Gegenteil. Hätte ich es getan, hätte ich möglicherweise auch jemanden retten können …
Mir wurde schlecht. Ich setzte mich auf die nächstbeste Treppenstufe. »No can do!«, erklärte Oma Hu und versuchte Mamu das Baby abzunehmen.
Um was zu tun? Es wieder an den Straßenrand zu legen? Kurz entschlossen trat Mamu einen Schritt zurück, drehte den Schlüssel im Schloss und entließ Frau Fränkel ins Treppenhaus. Wie eine Löwin sprang unsere Nachbarin aus der Tür und riss das Bündel an sich.
Hus prallten zurück. Keiner von uns hatte geahnt, wie viel Kraft in der armen Frau Fränkel steckte, und niemand wagte das Baby noch anzurühren, nachdem sie mit einer zärtlichen Geste die Decke zurückgeschlagen hatte, um dem Kind ins Gesicht zu sehen.
»Gerda«, flüsterte sie. »Da bist du ja!«
»Wir können es doch nicht einfach behalten«, sagte Herr Fränkel hilflos.
»Ich glaube kaum, dass jemand danach fragen wird«, meinte Papa.
Nun wagte auch ich mich die Treppenstufen hinunter und schob mich zwischen meine Eltern. Das Baby hatte pechschwarze Haare, auch das Gesichtchen war ganz dunkel. Durch den weit aufgerissenen Mund konnte man an der kleinen rosa Zunge vorbei bis in den Hals gucken, wo das winzige Zäpfchen vor Empörung vibrierte. Der Gestank, der aus der Matte aufstieg, brachte fast mein Frühstück wieder zum Vorschein, aber Frau Fränkel schien sich nicht im Geringsten daran zu stören.
»Keine vierundzwanzig Stunden alt«, vermutete Mamu.
»Was ist heute für ein Tag?«, fragte Frau Fränkel.
»Der 26. Januar«, sagte ich. »Mein Geburtstag.«
Binnen weniger Tage besaß die kleine Gerda Fränkel einen
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