Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
geirrt hatte. Nicht Shanghai war das Ende der Welt.

EPILOG
    Hier waren sie also angekommen. Eine lichtdurchflutete, von Säulen gestützte Halle, die man, von den Bahnsteigen kommend, durch einen kleinen Triumphbogen am Ende der Gleise betrat, als stünde ein großer Empfang bevor. In ihrem Fall war es ja durchaus so gewesen. Es fiel schwer, sich vorzustellen, dass sie viele gewesen waren, fast zehntausend, wo man doch immer nur an die Millionen dachte, die es nicht geschafft hatten.
    Wir durchquerten den Bahnhof Liverpool Street und navigierten zwischen uns entgegeneilenden Reisenden hindurch, die irritiert »Excuse me!« murmelten.
    »Ich hasse London«, murrte Betti.
    »Ich bin mir nicht sicher, welche Richtung es war«, überlegte Bekka, den Protest meiner Cousine ignorierend. »Sie haben uns durch die Bahnhofshalle getrieben wie eine Herde Schafe, und hinter dieser Tür … glaube ich … wurden wir dann verteilt.«
    Sie eilte voran, ich hinterher. Es war ganz wie früher, mit dem Unterschied, dass wir als Kinder keine meiner schlecht gelaunten Cousinen im Schlepp gehabt hatten.
    »Was ist los, warum grinst du so?«, fragte Bekka irritiert.
    »Ach, ich habe mich nur gerade erinnert …«
    Aber Bekka wartete meine Antwort nicht ab und rüttelte bereits an der Tür, die zu unserer Überraschung nicht verschlossen war. Dahinter befand sich ein großer, kahler Raum, der wie eine Lagerhalle aussah.
    »Sie hatten die Halle mit einem Seil unterteilt …« Zögernd ging Bekka einige Schritte in den Raum hinein und wies mit beiden Händen in die entsprechenden Richtungen. »Auf dieser Seite saßen die Leute, die auf uns warteten – in Reihen hintereinander, als sollten wir ihnen etwas vorsingen. Gewundert hätte es mich nicht, schließlich hatten viele von uns noch keine Adresse und hätten so ziemlich alles getan, um auf sich aufmerksam zu machen.«
    Sie verstummte. Ihre Schultern sanken herab. Als ich zu ihr aufschloss, sah ich, dass Gänsehaut ihre Arme entlanglief.
    »Gegenüber saßen wir«, sagte sie leise, »und in der Mitte, genau zwischen uns und den Engländern, standen Tische für die Frauen vom jüdischen Hilfsverein. Sie hatten Listen und riefen Namen auf. Weißt du noch, Betti?«
    »Nein«, erwiderte Betti von der Tür, »zum Glück nicht.«
    »Damals fand ich es gar nicht so schlimm.« Bekkas Blick ging zur Decke, wohl um die Tränen zurückzudrängen, die ihr in die Augen geschossen waren. »Im Gegenteil, ich wollte ja herkommen, ich konnte es gar nicht abwarten, die Dinge endlich in die Hand zu nehmen. Wenn Tante Mildred den Schlaganfall nicht bekommen hätte, wenn ich nur ein paar Wochen früher angekommen wäre …« Sie brach ab und atmete tief ein. »Wie ein einziges kleines Wenn über ein ganzes Leben entscheiden kann. Zwei Leben, genau genommen!«
    Ich legte ihr eine Hand auf den Arm. Wozu nach Worten suchen, die es nicht gab?
    Drei Tage zuvor war ich am Bahnhof der Stadt angekommen, in der Bekka und meine Cousine zu Hause waren, aber nur eine von ihnen hatte mich am Bahnsteig erwartet. Da stand sie, eine schlanke Gestalt im Regenmantel, die flachen Halbschuhe schlammbespritzt; Wassertropfen fingen sich in ihrem langen weizenblonden Haar, und während ich, die zehn Jahre auf diesen Moment gewartet hatte, mit einem Mal nicht mehr wusste, wie man ein Bein vors andere setzt, war sie es, die zu laufen begann.
    So vieles, was mir gleichzeitig durch den Kopf stürzte, während wir uns umarmten – von »Ich bin so froh« über »Du bist so hübsch« bis »Es tut mir so leid«. Ich ließ sie los und stammelte: »Komisch, du bist gar nicht so groß, wie ich dachte!«
    Bekka lachte und gab mir einen leichten Schubs. »Und ich habe mich gefragt, ob ich dich überhaupt erkenne! Bist du sicher, dass du erwachsen bist …? Du siehst aus wie Ziska, bloß eine Nummer größer.«
    Ob ihr Gesicht nur vom Regen nass war, ließ sich nicht feststellen und mir gegenüber war sie damit klar im Vorteil. Aber noch bevor wir auf den Bahnhofsvorplatz traten, hatte ich mich gefasst, war es das Normalste der Welt, neben meiner besten Freundin zum Bus zu gehen. Das einzig nicht Normale war, dass wir es die letzten zehn Jahre nicht hatten tun können.
    Der Bus war fast so voll wie die Tram in Shanghai. Wir hielten uns an einer der schaukelnden Halteschlaufen fest, meinen kleinen Koffer zwischen uns eingeklemmt, und steckten uns gegenseitig mit Grinsen an.
    »Ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich hier bist«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher