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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Reling, um dem Rauch der Zigaretten zu entgehen – als sie mich auf einmal erschrocken am Arm packte. Wenige Meter neben dem Bug der Marine Lynx fuhr ein kleines, mit Menschen vollgepacktes Boot, dessen unregelmäßig tuckernder Motor unseren zwölftausend Bruttoregistertonnen gerade noch hatte ausweichen können. Sein Kapitän beeilte sich, aus unserem Fahrwasser herauszukommen. Das kleine Boot schwankte bedenklich, seine Passagiere mussten sich stehend aneinander festhalten. Ich sah Frauen, Männer, ein paar Kinder, dazwischen aufgespannte Decken, um Babys vor der Sonne zu schützen. Viele Koffer.
    »Mein Gott«, flüsterte Tante Irma, »was haben die denn vor?«
    »Palästina«, sagte ich leise. »Das Gelobte Land.«
    Judith hatte Recht gehabt: Es gab Menschen, die alles riskierten für ihren Traum. Ich hätte dem anderen Boot gern gewinkt und Masel tov – viel Glück – zugerufen, aber die Passagiere blieben so still, als wollten sie sich einbilden, nicht gesehen worden zu sein. Dies, obwohl sie für lange Augenblicke unmittelbar neben uns fuhren und ich die weiße Salzwasserkruste sehen konnte, die ihre Gesichter bedeckte.
    Und wir fuhren nach Deutschland. Ich bekam keinen Ton heraus. Das kleine Boot tuckerte zielstrebig von uns fort und war bald verschwunden.
    Am übernächsten Morgen tauchte die italienische Küste vor uns auf; diesmal war nicht Genua, sondern Neapel das Ziel. Auch hier ragten Überreste gesunkener Schiffe aus dem Hafenwasser, Andenken an die Landung der Alliierten vor vier Jahren.
    Keine Passkontrolle, kein Zoll, die Mannschaft der Marine Lynx stand nebeneinander an Deck und verabschiedete jeden Einzelnen von uns per Handschlag. Sechshundert Passagiere waren schnell von Bord. Der europäische Boden schwankte unter unseren Füßen.
    Wer auf die Idee mit den Viehwaggons gekommen war? Wir würden es nie erfahren. Die Mitarbeiter der italienischen Eisenbahn, die bereitstanden, um uns mit unserem Gepäck hineinzuhelfen, verstanden nicht einmal, warum die meisten von uns davor zurückschreckten, ausgerechnet in einen Viehwaggon zu klettern.
    Da standen wir in unseren besten noch erhaltenen Kleidern, unseren neuen Frisuren, und der Mann, der uns auffordernd die Hand zum Einsteigen reichte, rief ungeduldig auf Deutsch: »So reist man jetzt in Europa!«
    Immerhin lagen drinnen keine Strohschütten, sondern am Boden ausgebreitete, saubere Matten. Jeweils vierzehn von uns teilten sich einen Waggon, wir hatten uns wie immer mit Konitzers und Brinkmanns zusammengetan.
    »Wenn sie die Tür zumachen, fange ich an zu schreien«, kündigte Mamu an und Frau Brinkmann, ich, Tante Irma und eine vornehm wirkende ältere Dame, die sich als Frau Stern vorstellte, erklärten sofort, uns ihr anzuschließen.
    Ängstlich warteten wir. Genau so musste es gewesen sein. Die Juden sind freiwillig in die Züge gestiegen …
    Aber »genau so« wurde es zum Glück dann doch nicht, denn vor die Tür wurde nur ein halbhohes Eisengitter gehängt, damit niemand während der Fahrt hinausfiel. Wir würden jederzeit hinausschauen können. Hinausspringen, wenn wir wollten! Ein Kübel wurde hineingereicht, dazu ein Deckel; für eine Abtrennung mithilfe der mitgebrachten grünen Armeedecken der Amerikaner mussten wir selber sorgen.
    Erst gegen Abend setzte sich der Zug in Bewegung, was uns reichlich Zeit gab, im Bahnhof Wasser, Käse und große Laibe Weißbrot einzukaufen. An unsere Holzkisten gelehnt, Brot und Käse in der Hand, ließen wir Italien an uns vorüberziehen. Warmer Wind drang durch die offene Waggontür, weiter vorn spielte jemand Geige. Nein, unsere Fahrt hatte nichts gemein mit der der anderen. Onkel Erik, Tante Ruth, ihr Evchen. Die Eltern von Bekka.
    Wir fuhren in einem Viehwaggon, doch wir fuhren nach Hause, Onkel Erik wartete auf uns, und der Krieg, dem wir entronnen waren, zog als Landschaft an uns vorbei. Zerstörte Dörfer am Brenner, die Häuser nichts als ein Haufen Steine. Gesprengter Fels, Reste von Bunkern und Geschützstellungen, ausgebrannte Panzer. Die Ruinen von München, wo wir Brinkmanns verabschiedeten, die verkohlten Trümmer von Leipzig.
    Noch mehr zerbombte Bahnhöfe. Zum Schluss die Mondlandschaft, von der es hieß, sie sei Berlin. Langsam rollte unser Zug über die wackligen Eisenträger einer Behelfsbrücke, wir schauten in, auf und durch abgebrochene Mauern, die wie schwarze, faule Zähne in den Himmel ragten.
    Ich erkannte nichts. Aber noch bevor ich ausstieg, wusste ich, dass ich mich

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