Nanking Road
Bekka muss mich einladen und garantieren, dass ich auch wieder zurückfahre, und dann kann ich von Berlin aus einen Antrag stellen.«
»Du kennst drei Leute in England: Bekka, Betti und Jakob. Vielleicht geht es schneller, wenn sie dich alle drei einladen!«
»Gute Idee, das versuche ich«, meinte ich und dachte: Betti lädt mich nicht ein. Betti will nicht einmal ihren Vater sehen.
Kurz hinter der Einfahrt in den Golf von Aden ragten so viele Schiffswracks aus dem Wasser, dass es aussah, als wären sie zum Verrosten eigens hierher geschleppt worden, doch es waren tatsächlich Spuren mehrerer Schlachten, die unser Kapitän mit Hilfe eines Lotsen vorsichtig umschiffen musste. Als wir in Dschibuti anlegten, um Vorräte an Bord zu nehmen, näherten sich uns wie auf der Hinfahrt kleine Boote, von denen Einheimische Waren feilboten, und wir lagen eine ganze Weile vor Anker, aber niemand von uns durfte auch nur einen Fuß an Land setzen. Um unserer eigenen Sicherheit willen, hieß es, aber wahrscheinlich sollte verhindert werden, dass sich tatsächlich jemand in Richtung Palästina absetzte. Übers Rote Meer begleiteten uns immer wieder britische Militärboote, tauchten in gewissem Abstand auf, blieben eine Weile neben uns und verschwanden wieder.
Der Suez-Kanal: weitere kleine Boote, noch mehr Militär. Wir hatten Glück, dass wir überhaupt durchfahren durften, denn bis vor Kurzem war der Kanal gesperrt gewesen.
Es war August, das rotgoldene Ufer flirrte vor Hitze. Diesmal kamen uns nur wenige Schiffe entgegen. Einige Male sahen wir Beduinen, große, ganz in Weiß gekleidete Gestalten, die mageres Vieh vor sich hertrieben, aber für den größten Teil der Fahrt blieb die Wüstenlandschaft zu beiden Seiten des Schiffes still und menschenleer. Ihre Nähe ließ sie umso bedrohlicher wirken. An Bord redeten die meisten nur leise, nicht eine einzige Kamera hörte ich klicken, und ganz gewiss dachte niemand daran, seinen Platz am Büfett aufzugeben, um ins Wasser zu springen und sich durch die Wüste zu schlagen.
Durch Ägypten, das Land, in dem jetzt Feinde lebten. Wir waren froh, dass unser Schiff unter amerikanischer Flagge fuhr.
Nachdem wir den Suez-Kanal passiert hatten, lagen die letzten beiden Tage auf See vor uns. Nervosität machte sich breit, bei den wenigsten Vorfreude; plötzlich schrie jemand durch den Gang: Es fehlten Sachen aus einer Holzkiste! Der Kapitän musste einschreiten, ohne etwas ausrichten zu können; das Paar, das glaubte, bestohlen worden zu sein, saß zitternd vor Entrüstung am Tisch im Speisesaal, eine unsichtbare Barriere um sich herum.
Unsere grob gezimmerten Holzkisten – von den Amerikanern vor der Reise verteilt und mit Ölpapier gegen die Luftfeuchtigkeit ausgeschlagen – enthielten nur noch wenige Kleidungsstücke; den meisten Platz nahmen Kaffee, Zigaretten und Konserven ein, die den Grundstock für künftigen Schwarzmarkthandel bilden sollten. Ohne Schwarzmarkt, so hieß es, ginge gar nichts mehr in Deutschland, und das vermeintlich bestohlene Paar musste das Gefühl haben, von Neuem seiner Lebensgrundlage beraubt worden zu sein.
Aber nachweisen konnten die beiden nichts, nicht einmal sagen, seit wann aus ihrer Kiste etwas fehlte, worauf etliche Passagiere sich persönlich angegriffen und zu Unrecht verdächtigt fühlten. Reden und Gegenreden wurden geschwungen, die stark an eine Gerichtsverhandlung erinnerten, sodass Papa sich plötzlich in seinem Element fühlte und offenbar meinte, wieder Praxis gewinnen und sich einmischen zu müssen.
Mamu und ich verzogen uns an Deck, gefolgt von Tante Irma und Frau Brinkmann. »Puh«, meinte meine Mutter und klopfte Zigaretten für sich und Frau Brinkmann aus der Packung. »Ich komme immer mehr zu dem Schluss, dass überlebt zu haben uns nicht automatisch zu netteren Menschen macht.«
Sie lachten. Ich freute mich daran. Die zart gebräunte Hautfarbe, die wir alle während der Fahrt angenommen hatten, passte zu Mamus grauem Haar und ließ sie um Jahre jünger wirken. Eine Mitreisende war Friseurin und hatte allen Frauen und Mädchen in den letzten Tagen die Haare geschnitten, sodass wir ziemlich flott in Europa ankommen würden. Keine Hungerleider mehr, keine Ärmsten der Armen; niemand würde uns auf den ersten Blick ansehen, woher wir kamen und was wir überstanden hatten. Aus irgendeinem Grund war das wichtig, auch mir, und ich war glücklich, meine Mutter wieder so hübsch und froh zu sehen.
Tante Irma und ich lehnten uns über die
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