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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Tabletts anstellte, bedeutete die Frage der Tischnachbarn auch für uns jedes Mal eine gewisse Spannung. Hoffentlich saßen wir nicht wieder bei Friedmanns, die nicht aufhörten zu zanken, oder bei Lanzmanns, Eppsteins, Dollingers und all den anderen, die sich Berge von Essen aufs Tablett luden!
    Es war beschämend anzusehen. Mit vollen Backen kauten und redeten sie und stopften Brote in mitgebrachte Taschen, als gäbe es nicht in vier Stunden die nächste Mahlzeit. Lange vor Türöffnung warteten sie schon unruhig vor der Kantine, dabei waren etliche Männer bereits mit einem Zwickel in der Hose an Bord gegangen.
    Man hätte diese Leute in einer Sahnetorte übernachten lassen können und sie wären trotzdem in Sorge gewesen zu verhungern. Und es wurde auf der Reise nicht besser, im Gegenteil: Je näher wir Europa kamen, desto mehr Mitreisende warfen ihre Manieren über Bord.
    »Iss, Rudi«, forderte Frau Blix ihren Mann auf, bevor beide über ihr Tablett herfielen. »In Deutschland gibt’s nix mehr.«
    »Ehrlich …?«, fragte Evchen Brinkmann und sah erst ihre Mutter, dann mich bestürzt an.
    Frau Brinkmann erklärte tapfer: »Wir werden schon etwas finden.«
    »Seien Sie mal bloß nicht so sicher«, mampfte Frau Blix. »Wir kriegen für Brot, Kleidung und Kohle zwar eine kleine OdF-Zulage …«
    »Opfer des Faschismus!« Evchen nickte wissend.
    »… aber ansonsten leben wir von Lebensmittelkarten wie alle anderen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das heißt. Tausende sind im letzten Winter verhungert und erfroren, ist ja alles kaputt da drüben. Wir können jedes Gramm Fett gebrauchen, das wir hier noch abkriegen, was, Rudi?«
    »Soso, und warum gehen Sie dann zurück?«, fragte ich ärgerlich und versuchte Evchen, die völlig entgeistert dreinschaute, gleichzeitig einen aufmunternden Blick zuzuwerfen.
    »Wo sollen wir denn hin? Wir sind fast sechzig, wir können doch nicht noch einmal von vorn anfangen! Noch eine neue Stadt, noch eine fremde Sprache? Nein danke! Genug ist genug.«
    Ganz Unrecht hätten sie ja nicht, bemerkte Mamu vorsichtig, als wir wieder in unserer Kabine waren. Das Deutschland, das wir kannten, gab es nicht mehr, und was uns erwartete, war ein ebenso großes Rätsel wie seinerzeit das fremde Shanghai.
    Aber Papa erklärte überzeugt: »Wir schaffen das! Wer am Ende der Welt zurechtkommt, wird doch wohl keine Angst vor seiner eigenen Stadt haben.«
    Ich pflichtete ihm augenblicklich bei, sodass auch Mamu nicht anders konnte. Was wir zweifellos alle dachten, sprachen wir nicht aus: dass wir einiges, womit wir in Shanghai zurechtgekommen waren, unter gar keinen Umständen ein zweites Mal erleben wollten.
    Zu Evchen sagte ich am nächsten Tag: »Deutschland wird dir gefallen! Gut, die meisten Häuser sollen kaputt sein, aber stell dir vor, in zwei Wochen kannst du in sauberen Seen schwimmen lernen. Es gibt Wälder und Berge und nächsten Winter siehst du Schnee.«
    »Ich weiß, was ein Wald ist, ich habe einen auf einem Foto gesehen. Aber was ist so toll an gefrorenem Wasser?«
    »Warte es einfach ab«, erwiderte ich und lachte.
    »Ich wünschte, wir gingen auch nach Berlin, dann könntest du mir alles zeigen«, sagte Evchen. »Ich kenne niemanden in Köln und mein Deutsch ist auch nicht gut. Dauernd fallen mir Wörter nicht ein.«
    Sie schob die Unterlippe vor und zwirbelte mürrisch einen ihrer langen Zöpfe. Wir hatten zusammen einen der wenigen, umso begehrteren Liegestühle auf dem Promenadendeck ergattert. Aus reiner Gewohnheit nannten die Passagiere es so, obwohl kaum Platz zum Flanieren und der Blick aufs Meer von Rettungsbooten versperrt war.
    Trotz ihrer zahlreichen Spielgefährten an Bord suchte Evchen zu meiner Freude jeden Tag auch nach mir. Sie war in dem Alter, in dem ich Deutschland verlassen hatte, und konnte nicht genug bekommen von meinen alten Geschichten: von Bekka mit der Straßenkarte im Schuh, vom klugen Ruben und dem hinterhältigen Richard, dem ich die Nase gebrochen hatte. Vom Baum in unserem Hof, dessen Äste so dicht an mein Fenster gereicht hatten, dass ich hatte hineinspringen können, und von der alten Keifziege Bergmann, die jedes Mal schimpfend aus der Tür im ersten Stock geschossen kam, wenn sie mich auf der Treppe hörte.
    Eine Postkarte, die ich von der Reise an Bekka schickte, wollte Evchen unbedingt mit unterschreiben. »Wann besuchst du sie, weißt du das schon?«
    »Nein. Es ist nämlich gar nicht so einfach, nach England hinübergelassen zu werden.

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