Nanking Road
vorherbestimmt.«
Bekka strahlte. Ich dachte an die sanften, immer freundlichen Liebichs, die durch einen Wald gehetzt und auf unfassbar brutale Weise ermordet worden waren. Nie würde Bekka darüber hinwegkommen. Nie würde sie aufhören, Trost zu suchen. War der Boden unter Bekkas Füßen wirklich schon so fest, wie ich eben noch geglaubt hatte?
Wenn wir doch nur zusammenbleiben könnten!, dachte ich verzweifelt.
Im nächsten Augenblick blieb meine Freundin abrupt stehen. Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht und machte einer Mischung aus Schock und Qual Platz.
»Oh Gott«, flüsterte sie. »Gibt es einen anderen Eingang?«
Vor dem Haupteingang des Bahnhofs standen mehrere Dutzend Männer in rotbraunen Uniformen und rauchten. Prall gefüllte Seesäcke lagen auf dem Boden verstreut. Die Männer wirkten froh und erwartungsvoll, beinahe ausgelassen; die meisten waren kaum älter als Bekka und ich.
»Ich finde, wir sollten an ihnen vorbeigehen«, erwiderte Betti fest. »Gerade weil!«
Als sie mein verständnisloses Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Das sind deutsche Kriegsgefangene. Sie werden in diesen Wochen entlassen und in Sonderzügen aus dem ganzen Land an die Küste gebracht.«
Ich nahm Bekkas Arm. »Kein einziger Deutscher«, stimmte ich Betti zu, »wird uns je wieder dazu bringen, einen anderen Eingang zu benutzen.«
Hoch erhobenen Hauptes gingen wir an den Männern vorbei, deren Gespräche abbrachen, als wir uns näherten. Wahrscheinlich waren sie, obwohl jeder zu wissen schien, wer sie waren, nicht sonderlich erpicht darauf, durch ihre deutsche Sprache unnötig Aufsehen zu erregen. Ich konnte nicht anders, als ihnen dennoch einen unfreundlichen Blick zuzuwerfen.
Und nach Luft zu schnappen. Beinahe wäre ich stehen geblieben. Wie in Zeitlupe zog das fragende, verblüffte Gesicht an mir vorüber, obwohl Bekka und Betti mich augenblicklich ins Innere des Bahnhofs zerrten.
»Ziska, um Gottes Willen, wer war das? Jemand, den wir kennen?«
Bekka war ebenso verstört wie ich. Ich schüttelte langsam den Kopf. »Das war jemand aus Shanghai«, hörte ich mich fassungslos sagen. »Ein Freund von Mischa Konitzer. Er hat uns mit Nachrichten versorgt, als wir unsere Radios nicht mehr benutzen durften, und sich jahrelang heimlich mit Mischa getroffen. Ich selbst habe ihn nur ein einziges Mal gesehen – und da marschierte er mit der Hitlerjugend durch Hongkou!«
Bekka trat einen Schritt zurück. »Dennoch hast du ihn gleich erkannt.«
»Vielleicht habe ich mich getäuscht«, erwiderte ich hilflos.
»Ach was. Der wusste, wer du bist. Das war nicht zu übersehen.«
»Nun ja.« Ich zwang ein Lachen durch meine Kehle. »Nun habe ich wenigstens einen Grund, nach Australien zu schreiben. Mischa hat sich große Sorgen gemacht, als Rainer eingezogen wurde. Wir sind beide davon ausgegangen, dass er nicht überlebt hat.«
»Und dann triffst du ihn ausgerechnet an deinem einzigen Tag hier in London. So etwas Verrücktes!«, meinte Betti, die als Einzige von uns ziemlich hingerissen wirkte.
Die Eingangstür ging auf und die Deutschen trugen ihr Gepäck durch die Halle, ihrer Entlassung aus der Gefangenschaft entgegen. Rainer sah mich ernst an, nickte fast unmerklich, dann war er an uns vorbei.
Seltsam, dass ich mir sein Gesicht gemerkt habe, dachte ich.
Betti gab mir einen leichten Schubs. »Worauf wartest du? Du brauchst seine Adresse, sonst ist er gleich ein zweites Mal weg!«
Sie hatte Recht – und auch wieder nicht. Während meine Füße bereits zuckten, richtete mein Blick sich auf Bekka und flehte stumm um Hilfe.
Meine Freundin griff in ihre Tasche, zog einen Notizblock und einen Bleistiftstummel hervor und drückte mir beides in die Hand. »Wie war das eben mit den Zufällen?«, fragte sie.
Ich lief durch den Bahnhof. Der Sonderzug stand auf dem äußersten Gleis, ich sah Dutzende rotbrauner Hosen und Jacken, neugierige Gesichter unter schiefen Mützen. Eins begann zu lächeln.
Ich dachte: Mein erster Gerechter, das ist immerhin ein Anfang!
Und: Vielleicht mache ich es wahr, vielleicht gehe ich doch noch einmal zu Christine.
Eine Freundin wie Rebekka Liebich brauchte ich schließlich nicht mehr zu finden.
NACHWORT
Mamus Stimme zitterte. »Wenn sie Papa nicht bis nächsten Dienstag rauslassen, können wir nicht fahren.«
»Wieso sollten sie ihn nicht rauslassen?«, rief ich. »Wir haben doch die Papiere beisammen! Sie lassen doch alle gehen, die freiwillig das Land verlassen!«
Jetzt kämpfte
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