Nanking Road
Rückzugsmöglichkeit offen halten …«
»Es gibt nichts Unangenehmeres als Besuch, der zu lange bleibt«, bestätigte ich und schüttelte ihre Hand, bevor ich Bekka und Betti vorstellte.
»Die beiden waren auch auf dem Kindertransport«, erklärte ich.
»Ach«, sagte Mrs Shepard ganz leise, worauf Bekka zu meinem Erschrecken die Tränen in die Augen schossen, die sie vorhin am Bahnhof noch hatte unterdrücken können.
Ich hielt den Atem an. Kindertransport. Ein Wort, das ich leichthin sagen konnte, doch in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich gar nicht verstand, was es bedeutete – dass es wohl nur die wissen konnten, die dabeigewesen waren, und manche Pflegeeltern.
Der Junge, der an der Tür die Karten durchgerissen hatte, trat scheu näher. »Ich bin Jakob.«
Ich gab auch ihm die Hand. Vor all den anderen wusste ich plötzlich nicht mehr, was ich sagen sollte. Dass Jakob seinen Eltern nicht ähnelte, schien etwas unpassend, obwohl es das Erste war, das mir durch den Kopf ging, als wir uns gegenüberstanden.
Mrs Shepard übernahm das Kommando. »Im Büro habt ihr beide eure Ruhe. Miss Liebich, Miss Bechstein, gehen wir solange hinauf zu meinem Mann in die Vorführkabine?«
Betti machte den Mund auf und bat: »Kann ich bei Ziska und Jakob bleiben?«
Jakob nickte rasch; er hatte nicht nur nichts dagegen, sondern schien sogar erleichtert.
Tee war schon gekocht, Mrs Shepard ließ uns eine der beiden Kannen da und nahm die andere mit. Nachdem Jakob Betti und mir Tee eingegossen, die Milch für uns umgerührt hatte und es nichts mehr gab, was einem Gespräch im Weg stand, griff ich in meine kleine Reisetasche.
»Ich habe dir etwas von deinen Eltern mitgebracht«, sagte ich. »Einmal die Briefe, die Mrs Shepard über die Jahre nach Shanghai geschickt hat – der Grund, warum ich deine Adresse in England wusste. Aber es gibt auch noch zwei Fotoalben. Das erste kennst du vielleicht schon, die Bilder stammen aus deiner …«
Ich unterbrach mich erschrocken, beinahe hätte ich gesagt: aus deiner Zeit. Jakob blätterte das Album durch und bemerkte, die meisten Fotos kenne er in der Tat, da seine Eltern auch für ihn damals ein kleines Album zusammengestellt hätten.
Er bedankte sich. Sein Adamsapfel hüpfte unbehaglich auf und ab. Ich schob das zweite Album zu ihm hinüber und machte es kurz: »Das ist deine Schwester Gerda.«
»Meine … was!«
Die Augen groß wie Untertassen, klappte Jakob das Album auf. Ich rückte unwillkürlich näher an ihn heran, von seiner anderen Seite tat Betti dasselbe. Zu dritt schauten wir in das kluge Gesicht meiner winzigen Patentochter und ich fühlte meine Kehle eng werden. Seit jenem Nachmittag vor fast drei Jahren, als Mamu und ich Fränkels Wohnung für Familie Löw ausgeräumt hatten, hatte ich es nicht fertiggebracht, mir Gerdas Bilder anzusehen.
»Deine Mutter hat sie am 26. Januar 1942 auf der Straße gefunden, in eine Bambusmatte gewickelt. Ich weiß das Datum noch genau, weil es mein dreizehnter Geburtstag war, aber auch weil sich von einem Tag auf den anderen vieles veränderte, nachdem Gerda ins Haus gekommen war …«
In der nächsten Viertelstunde sprudelte unsere chinesische Geschichte von meinen Lippen, und Jakob und Betti hörten zu, ohne mich zu unterbrechen. Ich erzählte vom Haus in der Chusan Road, das unsere Väter gemeinsam mit Herrn Hu gebaut hatten, von Papas Nähmaschine, Herrn Fränkels Taxi und Mamus japanischen Pudeln. Von Oma Hu und ihren Enkeln, die Gerdas Spielkameraden geworden waren, vom Café Piefke und tropischen Sommern, aber auch von Frau Fränkels großer Verzweiflung. Ich erzählte von der Freundschaft zwischen Jakobs Mutter und Bettis Vater und von Frau Fränkels unerwarteter Rettung durch ein kleines Mädchen, dessen eigene Eltern es zum Sterben auf die Straße gelegt hatten.
»Ich habe mir früher oft ausgemalt, was du wohl zu Gerda sagen würdest, Jakob. Sie hätte dir gefallen, da bin ich ganz sicher. Sie war ein besonderes Mädchen, das hat jeder gespürt. Aber glaub bitte nicht, dass deine Eltern dich durch sie ersetzt haben. Deine Mutter ist fast verrückt geworden vor Sehnsucht nach dir und nur Gerda hat sie davor bewahrt.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte er ernst. »Wir haben hier auch jemanden verloren – meinen großen Bruder Gary. Er ist im zweiten Collegejahr zur Infanterie eingezogen worden und in Nordafrika gefallen. Wenn ich nicht gewesen wäre …«
Er brach verlegen ab, als befürchtete er, wir könnten
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