Nanking Road
und was in den Papieren meiner Urgroßeltern gestanden hatte: Mamu, Papa und ich waren nicht jüdisch!
Dieses Gefühl hatte ich lange nicht mehr gehabt, und ohne zu wissen warum, schämte ich mich plötzlich auch dafür ein wenig. Bei den Deutschen hätte ich schließlich auch nicht sitzen wollen, und wenn sie mich eigenhändig hinübergeschleppt hätten.
Eine kühle Brise empfing uns, als wir über das Promenadendeck der Touristenklasse zurück zu unserer Kabine spazierten. Den ganzen Tag über war es angenehm warm gewesen, jetzt jedoch spürte man deutlich, dass auch am Mittelmeer noch Winter herrschte.
»Morgen ist Weihnachten«, erinnerte uns Papa.
Niemand antwortete. Was hätten Mamu oder ich auch dazu sagen sollen? Konnte sich Papa nicht denken, dass jede einzelne Minute der letzten Wochen davon bestimmt gewesen war, ihn aus dem Lager zu holen und unsere Abreise vorzubereiten? Ich hatte weder daran gedacht, Geschenke für meine Eltern zu basteln, noch erwartete ich, dass sie etwas für mich besorgt hatten. Was mich betraf, so konnte man Weihnachten dieses Jahr einfach aus dem Kalender streichen, ich würde es nicht vermissen.
Eine junge Frau in der Uniform eines Zimmermädchens klopfte an unsere Kabinentür, kaum dass diese sich hinter uns geschlossen hatte, und bot an, unsere Betten für die Nacht zu bereiten. Flink bezog sie mein Kanapee mit dem dafür vorgesehenen Bettzeug, das tagsüber im Schrank aufbewahrt wurde, und zeigte mir, dass man aus der getäfelten Wand an meinem Kopfende einen kleinen Tisch herunterklappen konnte. Bevor sie uns gute Nacht wünschte, legte sie mir augenzwinkernd noch einen Bonbon aufs Kopfkissen.
Vielleicht hätte sie meinen Eltern auch einen Bonbon schenken sollen. Kaum war das Zimmermädchen verschwunden, machten diese wieder die gewohnten betretenen Gesichter. Es gab in der engen Kabine nämlich nicht einmal mehr eine nennenswerte Schranktür, hinter der sie zum Aus- und Anziehen verschwinden konnten.
»Dreh dich zur Wand, Ziska«, befahl Mamu schließlich.
Ich tat, wie mir geheißen, obwohl ich diese Umstände etwas albern zu finden begann, und hörte, wie sie sich in meinem Rücken aus den Kleidern raschelten. Die Motoren des Schiffes vibrierten und hinterließen im Körper ein prickelndes Gefühl, als würden mein und Bekkas Blut ordentlich gequirlt. Ich fragte mich, ob jemand, der eine Schiffsreise mit fremdem Blut im Körper antrat, vielleicht sogar mit anderer Blutgruppe ans Ziel kam.
»Leg dir eine Notfalltüte unters Bett, Ziska«, ordnete Mamu an und ich schloss daraus, dass ich mich wieder umdrehen durfte.
Papa war bereits dabei, sich in seine untere Koje zu falten. Meine Eltern hatten kurz beratschlagt, ob er nicht lieber das obere Bett benutzen sollte, wo er mehr Platz zur Decke hin gehabt hätte, aber er fand, dass er als unser Beschützer gleich auf den Beinen sein musste, wenn von der Tür Gefahr drohte. Welche Gefahr ihm jetzt noch vorschwebte, wusste ich nicht, sah allerdings lebhaft vor mir, wie wir Papa morgen früh an den Beinen aus seiner Koje würden ziehen müssen.
Mamu hielt eine der diskreten braunen Tüten in der Hand, die im Schrank bereitlagen. »Mir ist aber überhaupt nicht schlecht!«, wandte ich ein, nachdem ich einen Augenblick besorgt in mich hineingehorcht hatte.
»Von Seekrankheit wird man von einer Minute auf die andere überfallen«, belehrte mich meine Mutter. »Willst du riskieren, dass du es nicht bis zum Gemeinschaftsklo schaffst?«
Auf keinen Fall, dachte ich und schob die Tüte unter mein Kanapee, wo sie unberührt liegen blieb. Der Wolf ließ mir keine Zeit, nachts auch noch seekrank zu werden.
Hatten die anderthalb Tage in Genua eine Ahnung in mir geweckt, dass es keineswegs selbstverständlich war, drei Mahlzeiten pro Tag zu bekommen, so weckte Mamu nun eine Ahnung, dass es damit bald wieder vorbei sein konnte. Schon am ersten Morgen ließ sie eins der kleinen Päckchen vom Frühstücksbüfett, die zwei Stück Zwieback enthielten, in ihrer Handtasche verschwinden. »Vorrat«, erklärte sie, »für die Zeit danach«, und verstaute ihre Beute ganz hinten im Schrank unserer Kabine.
Die Zeit danach. Die Zeit ohne Geld, die Zeit ohne unseren Lift, die Zeit ohne ein Dach über dem Kopf und ohne »eine Zukunft«. Die Zeit danach war, seit wir unterwegs und in Sicherheit waren, das einzige Thema, sobald sich die Kabinentür erst nach dem Frühstück, dann nach dem Mittagessen hinter uns schloss.
Ich rollte mich auf meinem
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