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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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es vielleicht sogar von mir erwartete. Aber ich senkte nur beschämt den Kopf und wechselte auf die andere Seite des Schiffes.
    Die Seite der Deutschen.
    Nicht dass es irgendwo gestanden hätte: Für Juden verboten, und es dauerte einige Minuten, bis ich es überhaupt bemerkte. Auf der Steuerbordseite des Außendecks wurde nicht etwa deshalb nicht gejammert, weil dort nachmittags die Sonne schien, sondern weil es die Seite der Deutschen war. Auch außerhalb des Speisesaals hatten sich unsere beiden Gruppen ganz selbstverständlich und ohne Aufhebens getrennt, hier die einen, da die anderen, mit jeweils ein paar ahnungslosen Engländern, Italienern oder Franzosen dazwischen.
    »Ziska, dear, why don’t you sit with us?«, lud mich Mrs Tatler ein und klopfte auf den freien Liegestuhl neben sich.
    Warum nicht?, dachte ich, dankbar, dass ich zu jemandem gehörte, selbst wenn wir nicht dieselbe Sprache sprachen.
    Aber sobald ich mich neben Mrs Tatler niedergelassen hatte, merkte ich, was los war. Ich merkte es daran, dass ich unter dem Hut und der Sonnenbrille im Liegestuhl zu meiner Linken das Mädchen mit den blonden Zöpfen erkannte, das, ohne von seinem Buch aufzusehen, einen deutlich spürbaren Zentimeter von mir wegrückte.
    Die nächsten Minuten lag ich wie gelähmt. Die unangenehme Situation wurde dadurch noch verstärkt, dass das Mädchen ausgerechnet einen Folgeband von »Pucki« las. Ich hörte sie atmen und umblättern und ziemlich lange auf dieselbe Seite starren; sie konnte sich, seitdem ich neben ihr saß, genauso wenig auf ihr Buch konzentrieren wie ich.
    »I love Berlin«, sagte Mrs Tatler gesprächig. »Kurfurstendämm! Älexänderplätz!«
    Bekka, Thomas und ihre Eltern hatten zwei Jahre Englisch gepaukt, weil sie ebenso fest wie vergeblich damit gerechnet hatten, dass eine Verwandte ihnen die Ausreise nach Amerika ermöglichte. Sie hatten mir damals vorgeschlagen mitzumachen, aber ich hatte keine Lust gehabt.
    Großer Fehler! Hätte ich über mehr als drei, vier Sätze Englisch verfügt – spärliches Überbleibsel der wenigen Unterrichtsstunden, die wir nach den Sommerferien in der jüdischen Schule noch gehabt hatten, bevor die Englischlehrerin nach Schweden auswanderte –, hätte ich mich mit Mrs Tatler unterhalten und so tun können, als wäre das Mädchen mit den Zöpfen gar nicht da. Nun blieb mir nichts anderes übrig, als fieberhaft zu überlegen, wie ich unauffällig und würdevoll den Rückzug auf unsere Seite des Decks antreten konnte.
    Dies war ohne Zweifel, was auch das Mädchen von mir erwartete. Ich konnte sie geradezu denken hören: Diese Engländerin hat keine Ahnung, aber du weißt genau, dass du nicht hierher gehörst!
    »What are you reading?«, fragte Mrs Tatler und nahm mir das Buch aus der Hand, wohl mehr aus Freundlichkeit, als weil sie mit dem deutschen Text etwas anfangen konnte.
    Ein toller Gefallen! Jetzt hatte ich nicht einmal mehr etwas, woran ich mich festhalten konnte. Ich spürte die Anspannung des Mädchens neben mir; ich spürte, wie sie wartete.
    Bekka würde nicht gehen, schoss mir plötzlich durch den Kopf.
    Ein Gedanke, der mich verblüffte. Mir so gar nicht ähnlich sah. Wieder wurde etwas seltsam klar, genau wie gestern, als die Männer uns im Gang Platz gemacht hatten. Als Mrs Tatler mir lächelnd das Buch zurückgab, lehnte ich mich mit klopfendem Herzen zurück und wühlte meinen Po noch etwas tiefer in den Segeltuchstoff. Ich versuchte, ruhig zu atmen und mir nichts anmerken zu lassen, aber meine Hände um den Buchumschlag wurden feucht vor Anstrengung und dem Bewusstsein unfassbarer Kühnheit.
    Das Mädchen stand auf. Zu der Frau, die auf seiner anderen Seite döste, sagte es: »Ich geh noch mal in die Bibliothek, Tante Rosel. Dieses Buch ist nicht besonders spannend.«
    »Tu das, Riekchen. Ich halte dir den Liegestuhl frei«, erwiderte die Tante schläfrig.
    Der Liegestuhl blieb frei, Riekchen kam nicht zurück. Es war, das musste ich mir eingestehen, kein schönes Gefühl, dass jemand den Tag lieber in einer stickigen Bibliothek verbrachte, als in meiner Nähe zu sitzen, aber immerhin: Ich hatte einen kleinen Sieg errungen.
    Auf der Scharnhorst gab es keine Schilder mehr, die die Juden in ihre Schranken gewiesen hätten, es gab – Papa hatte eigens in der Schiffsordnung nachgelesen – keine Verbote, die nur uns betrafen. Einmal an Bord, waren wir Passagiere mit denselben Rechten wie alle. Wir hatten unsere Kabinen und unsere Plätze am Tisch, wir

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