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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Kanapee zusammen, im Schoß »Pucki«, ein Buch aus der Bibliothek, das man sich ungefragt aus dem Regal nehmen durfte. Mamu bestand darauf, uns langsam an die Sonne zu gewöhnen und nicht gleich mehrere Stunden im Freien zu verbringen. Aber die Luft in unserer Kabine wurde dick von all den Sorgen und man konnte das Fenster leider nur theoretisch öffnen, da der ölige Gestank der Motoren geradewegs zu uns hineinzog.
    »Die erste Klasse hat heute eine Rettungsübung«, bemerkte ich. »Ob wir morgen drankommen? Dann müsste es aber am Schwarzen Brett gestanden haben, meint ihr nicht?«
    Ich bekam keine Antwort, was ich ein wenig leichtsinnig fand. Zehn Rettungsboote hingen außen am Schiff, zehn Boote für fast dreihundert Passagiere plus Besatzung, und ich bezweifelte sehr stark, dass der Platz für alle reichte. Wäre es da nicht besser gewesen, wir hätten einen Plan …? Meine Eltern jedoch, von denen mein Wohl und Wehe abhing, schienen sich nicht dafür zu interessieren.
    »Soll ich euch vorlesen?«, versuchte ich es ein paar Minuten später – bei Eddy Fichte hatte es schließlich auch funktioniert.
    Als wäre ich gar nicht da, fuhren sie fort, auszubreiten, welch wenige Möglichkeiten wir »jetzt überhaupt noch hatten«.
    Nach einer Weile zog ich meine letzte Karte und verkündete: »Also, ich gehe jetzt hinauf!«
    Doch nicht einmal das beachteten sie. Dabei waren wir gerade einmal dreißig Stunden an Bord und ich hatte mich ohne meine Eltern noch keinen Schritt aus der Kabine getraut. Ich redete mir ein, dass nichts dabei war – bei ruhiger See konnte man auf einem Schiff wohl kaum verloren gehen –, trotzdem wartete ich noch einige Augenblicke für den Fall, dass jemand, irgendjemand! , mir befahl zu bleiben.
    Nichts. Nicht einmal eine Ermahnung, von der Reling wegzubleiben. Trotzig machte ich mich auf den Weg, das Buch mit dem Bibliotheksaufkleber unter den Arm geklemmt. Mein Ausweis, dass ich an Bord gehörte.
    An der Treppe zum Promenadendeck blieb ich stehen und lauschte. Stimmen und Gelächter waren zu höre und ich stellte mir vor, wie die Passagiere der ersten Klasse in ihren orangen Schwimmwesten herumstanden, ein Glas Sekt in der Hand.
    »Bitte, meine Herrschaften, ich brauche einen Freiwilligen«, warb eine männliche Stimme. »Wer klettert für uns ins Rettungsboot?«
    Halb erwartete ich, dass Mischa Konitzer sich meldete und ich auf diese Weise ein Lebenszeichen von ihm erhielt, aber er tat keinen Mucks. Wahrscheinlich mochte man als Jude auch in der ersten Klasse nicht auffallen.
    Ich öffnete die Tür, die zum Außendeck der Touristenklasse führte. Am Vormittag hatte die Backbordseite des Schiffes im Sonnenschein gelegen, jetzt, am Nachmittag, war es dort schattig und kühl und die Mitreisenden lagen in Wolldecken gehüllt in ihren Liegestühlen. Dicht an dicht standen die hölzernen Gestelle, aufgereiht an der schützenden Wand, ein Anblick, der an ein Sanatorium erinnerte. Da ich nicht kühn genug war, sofort einen freien Platz zwischen all den fremden Leuten einzunehmen, beschloss ich, erst einmal ein Weilchen an der Reling zu stehen, um mich zu gewöhnen.
    Der Wind zerrte an meinem Haar, meinem Rock, und kroch die Beine hinauf. Es war ein kühlerer Wind als am Morgen und Meer und Himmel hatten andere Farben. Vorm Bug der Scharnhorst sprühten Schaumkronen und am Horizont erkannte ich ein Schiff als schmalen grauen Streifen, der ab und zu in der Sonne aufblitzte.
    »Was soll nur aus uns werden?«, klagte es plötzlich hinter mir. »Wovon sollen wir leben?«
    Einen Augenblick dachte ich, Mamu und Papa wären doch mit hinausgekommen. Aber als ich mich umdrehte, sah ich fremde, blasse Gesichter aus ihren Wolldecken starren.
    »Wie sollen wir die Eltern nachholen? Wir werden selbst nur das Nötigste haben, vielleicht nicht einmal das!«
    »… die Schwester und ihren Mann …«
    »… bei mir sind es die Kinder …«
    Die Erwachsenen hatten keinen Blick für die Farben des Meeres, sie spürten nicht, dass es verschiedene Arten von Wind gab. Sie rückten ihre Deckstühle dicht an die Wand, sie wären in der Wand verschwunden, wenn es möglich gewesen wäre.
    »Jetzt gibt es kein Zurück mehr«, sagte jemand. Aber er sagte es nicht in erleichtertem Ton, sondern so verzagt, als habe er einen unverzeihlichen Fehler begangen.
    Gebt doch eure Tickets zurück! Andere warten darauf!
    Ich spürte, dass Bekka vor all diese Leute hingetreten wäre und ihnen genau das ins Gesicht gesagt hätte. Dass sie

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