Nanking Road
waren eingezeichnet. Das Schiff hatte ein Kino, ein Schwimmbad und eine Bibliothek, es hatte sogar Fahrstühle.
Papa und ich prägten uns immer noch den Plan ein, als das Signal zum Ablegen ertönte und wir uns beeilen mussten, den Weg hinaus zu finden. Den Aufgang zum Promenadendeck erkannten wir im Vorübergehen daran, dass auch diese Treppe mit einem Blechschild verhängt war. Darauf stand: Zutritt nur für Passagiere der ersten Klasse.
»Weißt du was?«, sagte ich. »Ich glaube, Konitzers sind da oben!«
»Deine Mutter wird’s freuen«, meinte Papa. Wir sahen uns an und zum ersten Mal, seit er aus Sachsenhausen zurückgekehrt war, mussten wir beide gleichzeitig lachen.
Mit einiger Mühe fanden wir das Deck mit den Liegestühlen, über das wir aufs Schiff gelangt waren, und blickten auf die Zuschauer am Kai hinunter. Der Wind zauste mein Haar, und es war ein anderer Wind als unten am Boden. Ein Wind mit mehr Kraft, ein Wind, der bereit und schon ein wenig ungeduldig war, uns übers Meer zu tragen.
Ich schob meine Hand in die meines Vaters und lehnte mich an ihn. Wir waren an Bord, wir hatten es geschafft. Schon fragte ich mich, wie ich je daran hatte zweifeln können.
Und dann sah ich ihn: Eddy Fichte. Dicht an der Hafenkante stand er mit seinem grauen Seesack, während die Treppe zurückgezogen und vom Schiff weggerollt wurde, stand da und winkte und hob bedauernd die Schultern, als er uns entdeckte.
Tat, als machte es ihm nichts aus. Aber Papa erstarrte, als er ihn sah, und sagte leise: »Oh nein.«
Wo war Mamu? Vielleicht hatte sie den Aufgang nicht gefunden und stand an einer anderen Stelle des Schiffes, vielleicht saß sie immer noch in der Kabine und weinte vor Erleichterung. Die ersten Takte eines Volksliedes erklangen: »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus?« Auf dem Promenadendeck spielte die Kapelle, Passagiere der ersten Klasse warfen zum Abschied Konfetti und Luftschlangen.
Taschentücher flatterten. Kusshände flogen. Eddy Fichte schulterte seinen Seesack und wandte sich ab; für Sekunden erkannte ich zwischen den winkenden, lachenden Zuschauern noch seine Mütze, dann war er in der Menge verschwunden. Ein letztes Mal grüßte das Schiffshorn und das Dröhnen und Stampfen unter meinen Füßen nahm zu, während wir Fahrt gewannen. Möwen strichen durch die Luft mit triumphierendem Schrei, eine segelte lange neben mir auf der Stelle, als wollte sie sich mein Gesicht einprägen.
»Egal, wie es uns dort drüben ergeht … nie dürfen wir die vergessen, die zurückbleiben«, sagte Papa und drückte meinen Arm.
Ich starrte auf die Stelle, an der Eddy Fichte gestanden hatte, und wusste, dass mir das Vergessen nie gelingen würde … selbst wenn ich es wollte.
5
Meine Mutter hatte im Reisebüro einen Prospekt des Norddeutschen Lloyd vorgelegt bekommen. Die Beschreibung der luxuriösen Salons, des beheizbaren Schwimmbassins und der vorzüglichen Speisen an Bord der Scharnhorst bedeutete ihr nichts; meine Mutter wäre, wenn nötig, auch auf einem Ruderboot ausgereist. Aber ein Satz war ihr doch in Erinnerung geblieben: Dieser schnelle Ozeandampfer, so hieß es, sei eine schwimmende Stadt.
Hätte es nicht bereits im Prospekt gestanden, wir hätten es spätestens am zweiten Tag bemerkt – nicht nur, weil es auf der Scharnhorst an nichts fehlte, sondern weil diese Stadt ein Oben und Unten hatte, als hätten wir Berlin nie verlassen. Es gab Reiche und Habenichtse, Menschen, die dienten, und andere, die bedient wurden, es gab Deutsche und Juden und ein paar Nationalitäten, die nicht weiter auffielen. Man fand sich sofort zurecht.
Das war einerseits sehr beruhigend: Obwohl wir uns mit jedem Stampfen der Motoren, jeder Welle, die der Bug zerteilte, weiter von Europa entfernten, trafen wir auf nichts, das uns nicht bereits vertraut war. Andererseits spürte ich deutlicher denn je, dass irgendetwas an dem, was wir kannten, nicht mehr stimmte, ja, nie gestimmt hatte; ich hatte bloß erst einmal losfahren müssen, um es zu bemerken.
Zum ersten Mal den Speisesaal zu betreten, hatte mein Herz bis zum Hals schlagen lassen und meine Eltern waren so blass, dass ihnen der Steward ungefragt ein Mittel gegen Seekrankheit anbot. Es war Jahre her, dass wir mit so vielen Deutschen auf engem Raum zusammengeworfen worden waren, aber aller mulmigen Gefühle zum Trotz war ich entschlossen, jetzt, wo wir es glücklich an Bord geschafft hatten, wo wir unsere reguläre Kabine hatten und junge deutsche Männer
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