Nanking Road
aßen dieselben Mahlzeiten, durften Liegestühle und die Aufenthaltsräume für Damen, Herren oder Kinder benutzen. Wir durften uns ungefragt dieselben Bücher aus der Bibliothek nehmen.
Aber ziemlich schnell begann ich zu begreifen, dass man Dinge, die sich in den Köpfen der Menschen bereits festgesetzt haben, auf keine Hinweistafel mehr zu schreiben braucht. Die Schilder, die uns voneinander trennten, galten, obwohl sie gar nicht zu sehen waren. Sie galten, weil beide Seiten es so wollten.
Am zweiten Abend gab es ein Festessen aus mehreren köstlichen Gängen, es gab Weihnachtsmusik und einen großen Tannenbaum, der direkt vor der Wand mit dem Porträt des Fü stand und diesen aussehen ließ wie den obersten Stern auf der Tannenspitze. Die Reederei spendierte jedem Kind sogar ein Geschenk: eine Tüte mit Süßigkeiten, einem kleinen Plastikmodell der Scharnhorst , Postkarten und Aufklebern des Norddeutschen Lloyd.
Auch ich bekam eine solche Tüte und der Steward zwinkerte mir zu, als wollte er sagen: »Du darfst es ruhig nehmen, auch wenn für euch Juden gar nicht Weihnachten ist.«
Am liebsten hätte ich gesagt: »Wir feiern zu Hause immer Weihnachten, und die Familie meiner besten Freundin auch, obwohl die nicht mal evangelisch sind!«
Stattdessen senkte ich beschämt den Kopf. Überall im Speisesaal fiel der Blick auf leere Tische und Stühle, den traurigen Anblick unberührten Festschmucks vor verschmähten Tellern.
»Auch Ihnen ein frohes Fest«, sagte unser Steward förmlich und zog für Mamu den Stuhl zurück.
Blicke trafen uns. Köpfe schoben sich zusammen. Ich sah, wie Riekchens Lippen sich spöttisch kräuselten, und diesmal tat sie mir nicht den Gefallen wegzusehen. Meine Eltern und ich saßen zwischen fast leeren jüdischen Tischen, ohne richtig jüdisch zu sein, und feierten Weihnachten, obwohl es uns nicht zustand. Und dies, wie mir plötzlich bewusst wurde, nach Meinung beider Seiten auf unserem Schiff!
Der Speisesaal war der Ort, an dem alle guten Vorsätze, alle klugen Antworten, die man im Gang, in der Kabine oder an Deck fand, einem wieder um die Ohren flogen.
Kaum weniger verwirrend war die Situation für Mr und Mrs Tatler. Ich glaube, die beiden merkten erst jetzt, wo sie platziert worden waren. Sie warfen einander erschrockene Blicke zu und gaben sich vergebens Mühe, ihr Unbehagen vor uns zu verbergen.
»Margot, wenn du möchtest …« Papa beugte sich vor.
»Auf keinen Fall!«, flüsterte Mamu und ihre Augen blitzten. »Jetzt erst recht, Franz!«
Sie trank ihr Wasserglas in einem Zug leer, lehnte sich zurück und hob es dem Steward lächelnd entgegen. Meine Mutter mochte in der Stille unserer Kabine weinen und jammern, aber wenn es darauf ankam, gab es niemanden, der furchtloser war als sie.
»Merry Christmas«, sagte Papa zu den Tatlers, die sich beeilten, ihre Gläser zu erheben und mit ihm anzustoßen. Wieder wechselten die beiden verstohlene Blicke. Ich fragte mich, ob sie auch bei der nächsten Mahlzeit noch an unserem Tisch sitzen würden.
Plötzlich sprach Mr Tatler einen langen Satz, von dem ich genau zwei Worte verstand: children und radio .
»Yes«, erwiderte mein Vater sofort. »Ziska’s friends …«, und sie verstrickten sich in eine längere mysteriöse Unterhaltung, von der ich, obwohl ich die Ohren spitzte, bis sie rauschten, nichts heraushörte als noch zwei weitere Male meinen Namen.
»Was sagen sie? Was?«, flüsterte ich Mamu mit wachsender Frustration zu, obwohl ich wusste, dass auch sie nichts verstand. Wieder verfluchte ich meine Faulheit, Englisch zu lernen – oder war es damals etwas anderes gewesen, das mich abgehalten hatte? Der Kummer vielleicht, dass ich meine beste Freundin an ein Land mit dieser Sprache verlieren würde?
Am Ende zückte Mr Tatler ein Notizbuch, blätterte es auf und schob es zusammen mit einem Bleistift zu Papa hinüber, der in seinen gestochen scharfen Buchstaben etwas hineinschrieb. Ich reckte den Hals und las:
Betti Bechstein (5 years)
Eva Bechstein (4 years)
Darunter die Adresse von Onkel Erik und Tante Ruth. Mit großen Augen blickte ich meinen Vater an, obwohl mir, seit ich denken konnte, eingebläut worden war, Kinder hätten nicht zu starren , wenn Erwachsene sich unterhielten.
Mrs Tatler lächelte meiner Mutter ermutigend zu, bevor sie einen Satz sagte, in dem das Wort help vorkam. Ich sah, wie Mamu ganz lange den Atem anhielt.
Kein Weihnachtslied, das an diesem Abend nicht gesungen worden wäre. Mit vier
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