Nanking Road
den Hafen, viele Schaulustige und die Häuser und Palazzi der Altstadt, die aus dieser Perspektive wie Bauklötzchen am Hang lehnten. Auf der anderen Seite sah ich Türen mit der Aufschrift Bibliothek , Kinderzimmer oder Sportraum .
Durch eine größere Tür ging es ins Innere des Schiffes und wir folgten wie ferngesteuert weiteren Schildern erst eine Treppe hinab, dann entlang Dutzender schmaler, nummerierter Türen, bis wir endlich vor der »122« standen.
Es hätte mich nicht gewundert, wenn es diese Kabine gar nicht gegeben hätte. Dass der Schlüssel nicht passte, überraschte mich keineswegs. Dann erst erkannte ich, dass es an Papas Hand lag, die so sehr zitterte, dass sie das Schloss nicht traf.
Mich ließen sie als Erste eintreten.
Augenblicklich versanken meine Schuhe in weichem Teppichboden. Unsere Kabine! Zwei übereinander liegende Kojen mit kleinen Bettlampen, ihnen gegenüber – mit höchstens einem Meter Zwischenraum – das Kanapee, das nachts mein Bett sein würde. Ein schmaler Schrank stand am Fuß der Kojen, über dem Kanapee hing ein Regal. Da waren ein Waschtisch mit Spiegel und Schubladen und ein kleines Fenster, das nicht nur einen Blick aufs Meer bot, nein: Man konnte es sogar öffnen.
Das Zimmer war eine Streichholzschachtel. Ich fand es so schön, dass meine Knie von jäher, unerwarteter Vorfreude schon wieder ganz weich wurden. Rasch nahm ich Papa den Schlüssel aus der Hand, steckte ihn von innen ins Schloss, drehte zwei Mal um und ließ den Schlüssel in der obersten Schublade des Waschtischs verschwinden.
Am besten, wir warteten jetzt ganz still ab, bis das Schiff sich auf hoher See befand!
Meine Mutter sank auf das untere Bett und verbarg das Gesicht in beiden Händen. »Tja«, sagte Papa heiser und sah sich um. »Sieht aus, als hätten wir es geschafft, Margot.«
»Wo ist denn hier das Klo?«, fragte ich, um darauf aufmerksam zu machen, dass ich auch dabei war.
»Wollen wir es suchen gehen?«, schlug Papa vor. »Ich glaube, deine Mutter möchte ein paar Minuten allein sein.«
Zögernd griff ich in die Schublade und nahm den Schlüssel wieder heraus.
Auf dem Gang trafen wir eine Gruppe vergnügter, lärmender Passagiere, junge Männer, die auf dem Weg zum Ausgang waren, um das Ablegen nicht zu verpassen. Papa fuhr zurück, als wir die lachenden, rufenden Stimmen, die festen Schritte auf uns zukommen hörten. Nirgends eine Nische, in die man hätte verschwinden können …
Die Leute grüßten freundlich und sortierten sich anstandslos hintereinander, im Gleichschritt wie ein Trupp Pfadfinder, um an uns vorbeizukommen. Erleichtert grüßten wir zurück. In Sicherheit!, flüsterte ich mir selber zu, wenngleich ohne das Wort wir schon mitdenken zu können.
Die Gemeinschaftstoiletten und Duschen lagen am Ende des Gangs, nicht weit von unserer Kabine entfernt. Daneben hing ein Plan des Schiffes, auf dem ich sofort das kleine Rechteck mit der Nummer 122 suchte. Tatsächlich, da war es: Nummer 122, schwarz auf weiß. Es gab unsere Kabine, es gab – wirklich und wahrhaftig! – uns auf diesem Schiff.
Wenn man über Jahre nichts anderes kennt, als geschubst und gestoßen zu werden, dann geht etwas Merkwürdiges mit einem vor. Man erwartet es, sieht es voraus, plant seine Schritte und macht sich unsichtbar. Denn allein unsere Gegenwart war ja schon anstößig gewesen. In Kinos, Cafés und auf Parkbänken war kein Platz für uns, in Bussen durften wir uns nicht setzen; zuletzt hatte ich mich nicht einmal mehr getraut, mit meinen jüdischen Händen unser Treppengeländer zu berühren. Kamen Nachbarn im Hause entgegen, drückte ich mich an die Wand, um möglichst wenig von ihrem Platz wegzunehmen, und sie sahen großzügig über mich hinweg. Wenn es nicht gerade Richard Graditz war, der mir begegnete, beherrschte ich mein Unsichtbarwerden nahezu meisterhaft.
Und hier waren wir mit einem Mal reguläre Passagiere, denen andere im Gang auswichen, wir hatten eine Kabine mit einer Nummer, die auf einem richtigen Plan stand. Ich konnte mir überhaupt noch nicht ausmalen, was das bedeutete, aber irgendwo tief in mir hatte ich plötzlich ein Gefühl, als kitzelte mich jemand mit einer Feder.
He, Ziska! Aufwachen! Du bist wieder da!
Mit dem Finger erkundeten wir die Lage der Touristen- und der ersten Klasse (wir am hinteren, die anderen am vorderen Ende des weißen Deckaufbaus), wir verfolgten den Weg zu den Aufenthaltsräumen und Außendecks und zu den Notausgängen. Auch die Rettungsboote
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