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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich.
    Midoris Vater antwortete nicht. Ich wusch die drei Gurken, goß ein wenig Sojasoße auf einen Teller, wickelte eine Gurke in Seetang, tunkte sie in die Sojasoße und verschlang sie genüßlich.
    »Hmm, prima«, sagte ich. »Einfach und frisch, schmeckt nach Leben. Ausgezeichnete Gurken. Viel handfester als das meiste Obst.«
    Nachdem ich die erste verzehrt hatte, machte ich mich an die nächste. Mein wohliges Schmatzen erfüllte den Raum. Erst nach der zweiten Gurke legte ich eine Pause ein, um mir auf dem Gaskocher im Flur Wasser für einen Tee zu erhitzen.
    »Hätten Sie gern etwas zu trinken, Wasser oder Saft?« fragte ich Midoris Vater.
    »Gurke«, flüsterte er.
    Ich lächelte. »Mit Seetang?«
    Er nickte sein kleines Nicken. Ich richtete das Bett wieder auf, schnitt ein mundgerechtes Stück Gurke ab, wickelte es in Seetang, tunkte es auf einem Zahnstocher in die Sojasoße und steckte es ihm in den Mund. Mit kaum verändertem Gesichtsausdruck kaute Midoris Vater lange darauf herum, bevor er es runterschluckte.
    »Schmeckt’s?« fragte ich.
    »Gut«, sagte er.
    »Appetit zu haben ist ein gutes Zeichen. Es zeigt, daß man lebendig ist.«
    Er aß tatsächlich die ganze Gurke auf. Anschließend bat er um Wasser, und ich gab ihm aus der Flasche zu trinken. Kurze Zeit später mußte er auf die Toilette, und ich holte die Bettflasche unter dem Bett hervor und legte ihm den Penis hinein. Danach leerte ich die Flasche in die Toilette und wusch sie aus. Dann ging ich zurück ins Krankenzimmer und trank meinen Tee zu Ende.
    »Wie fühlen Sie sich?« fragte ich ihn.
    »Mein Kopf«, wisperte er.
    »Ihr Kopf tut weh?«
    Er nickte mit leicht gerunzelter Stirn.
    »Wahrscheinlich ist das normal, so kurz nach einer Operation. Allerdings bin ich noch nie operiert worden, also kenne ich mich nicht aus.«
    »Fahrkarte«, sagte er.
    »Fahrkarte? Was für eine Fahrkarte?«
    »Midori«, flüsterte er. »Fahrkarte.«
    Da mir völlig schleierhaft war, wovon er redete, hielt ich lieber den Mund. Auch er schwieg eine Weile, dann sagte er etwas, das wie »bitte« klang. Dabei starrte er mir mit weitaufgerissenen Augen ins Gesicht. Anscheinend wollte er mir etwas mitteilen, aber was?
    »Ueno«, sagte er. »Midori.«
    »Bahnhof Ueno?«
    Er nickte schwach.
    »Fahrkarte, Midori, bitte, Ueno«, faßte ich zusammen, konnte aber keinen Zusammenhang herstellen. Vielleicht war sein Bewußtsein gestört, und er brachte etwas durcheinander, aber der Ausdruck seiner Augen war im Vergleich zu vorher ganz klar. Er hob den Arm, der nicht mit dem Tropf verbunden war, und streckte ihn nach mir aus, was eine große Anstrengung für ihn bedeuten mußte, denn seine Hand zitterte in der Luft. Ich stand auf und ergriff seine zerknitterte Hand, und er erwiderte mit seinen schwachen Kräften den Druck und flüsterte noch einmal »bitte«.
    »Ich kümmere mich um die Fahrkarte und um Midori, seien Sie unbesorgt.« Ich schien das Richtige getroffen zu haben, denn er ließ seine Hand aufs Bett zurückfallen und schloß die Augen. Als seine Atemzüge regelmäßig wurden und er eingeschlafen war, überzeugte ich mich wieder, daß er nicht gestorben war, bevor ich wieder auf den Flur ging, um mir Tee zu machen. Auf einmal wurde mir bewußt, daß ich eine gewisse Zuneigung zu diesem sterbenden kleinen Mann gefaßt hatte.
    Kurz darauf kam die Frau des Nachbarn zurück und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei, was ich bejahte. Ihr Mann schlief noch immer und atmete friedlich.
    Midori kam um kurz nach drei zurück.
    »Ich hab im Park gefaulenzt und deinen Rat befolgt«, erzählte sie, »mit keinem geredet und an gar nichts gedacht.«
    »Und wie war’s?«
    »Danke. Ich fühle mich richtig befreit. Noch ein bißchen schlapp, aber viel besser als vorhin. Wahrscheinlich war ich erschöpfter, als ich dachte.«
    Da ihr Vater fest schlief, gab es für uns nichts zu tun, und wir holten uns am Automaten Kaffee und tranken ihn im Fernsehraum. Ich berichtete Midori, was sich in ihrer Abwesenheit zugetragen hatte. Daß er geschlafen hatte und nach dem Aufwachen die Hälfte seines Mittagessens gegessen und um Gurke gebeten hatte, als er mich eine essen sah; daß er uriniert hatte und eingeschlafen war.
    »Tōru, du bist genial«, sagte Midori beeindruckt. »Wir reißen uns fast die Beine aus, um ihn dazu zu kriegen, daß er ein winziges bißchen ißt, und bei dir verputzt er gleich eine ganze Gurke. Unglaublich!«
    »Nicht mein Verdienst. Er hat einfach gesehen, daß es mir

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