Naokos Laecheln
abgeguckt hatte, kurbelte ich sein Bett hoch und fütterte ihn abwechselnd mit Gemüsepüree und Fisch. Es dauerte unheimlich lange, bis er auch nur die Hälfte gegessen hatte und mir durch eine winzige Bewegung seines Kopfes signalisierte, es sei genug. Offenbar schmerzten ihn größere Bewegungen. Ob er noch etwas Obst wolle? Er lehnte es ab. Ich wischte ihm mit dem Handtuch den Mund ab und ließ das Bett wieder hinunter, dann brachte ich das Geschirr auf den Flur.
»Hat es Ihnen geschmeckt?« fragte ich.
»Ekelhaft«, hauchte er.
Ich lachte. »Stimmt, so sah es auch aus.« Midoris Vater sah mich schweigend an; er schien sich nicht entscheiden zu können, ob er die Augen schließen oder weiter öffnen sollte. Ich fragte mich, ob der Mann wußte, wer ich war. Er wirkte entspannter als in Midoris Gegenwart. Möglicherweise hielt er mich auch für jemand anderen. Wenn es so war, hatte ich nichts dagegen.
»Es ist schön draußen heute.« Ich setzte mich auf den Hocker und schlug die Beine übereinander. »Bei schönem Herbstwetter ist es sonntags überall unheimlich voll. An solchen Tagen ist es am angenehmsten, im Zimmer zu bleiben und sich zu entspannen. Die Menschenmassen sind zu anstrengend. Außerdem ist die Luft schlecht. Ich mache sonntags meistens meine Wäsche. Morgens wasche ich, hänge die Sachen auf dem Dach von meinem Wohnheim auf, hole sie wieder rein, bevor es dunkel wird, und bügle sie ordentlich. Bügeln macht mir überhaupt nichts aus. Ich finde es sogar befriedigend, zerknitterte Sachen zu glätten. Außerdem kann ich ganz gut bügeln. Am Anfang konnte ich es natürlich überhaupt nicht, hab überall Falten reingebügelt. Aber nach einem Monat hatte ich es raus. Jedenfalls ist der Sonntag mein Wasch- und Bügeltag. Heute ging das natürlich nicht. Schade, so ein prima Waschtag.
Macht aber nichts. Dafür stehe ich morgen ein bißchen früher auf und erledige das. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Sonntags habe ich nie etwas vor.
Wenn ich morgen die Wäsche aufgehängt habe, gehe ich um zehn zu einer Vorlesung. Midori nimmt auch daran teil – Theatergeschichte II. Wir sprechen gerade über Euripides. Kennen Sie Euripides? Er ist ein alter Grieche; neben Aischylos und Sophokles nennt man ihn einen der drei Großen der griechischen Tragödie. Angeblich ist er in Mazedonien an einem Hundebiß gestorben, aber das ist wohl eine Legende. Sophokles gefällt mir besser, aber das ist wohl Geschmackssache. Eigentlich kann ich nicht sagen, welcher der bessere ist.
Seine Stücke zeichnen sich dadurch aus, daß alles immer verworrener wird, bis die Charaktere weder ein noch aus wissen. Verstehen Sie? Alle möglichen Leute treten in Erscheinung, und jeder ist in einer bestimmten Lage und hat seine Gründe und Ausreden, alle sind sie auf der Jagd nach ihrer jeweiligen Vorstellung von Gerechtigkeit und Glück. Deshalb bringt im Endeffekt keiner etwas zustande. Kein Wunder. Ich meine, im Grunde ist es doch unmöglich, daß jedem Gerechtigkeit widerfährt und am Ende jeder glücklich und siegreich dasteht. Also entsteht Chaos. Und was glauben Sie, was dann passiert? Ganz einfach, zum Schluß erscheint ein Gott und regelt den Verkehr. Du gehst dorthin, du kommst hierher, du heiratest sie, und du wartest eine Weile hier. Der Gott ist so etwas wie ein Reparateur, und am Ende läuft alles wie am Schnürchen. Das bezeichnet man als Deus ex machina. In den Stücken von Euripides tritt fast immer ein Deus ex machina auf, und in diesem Punkt gehen die Meinungen über ihn auseinander.
Wäre es nicht praktisch, wenn es einen Deus ex machina auch in der Realität gäbe? Kaum sitzt man in der Klemme, schon kommt ein Gott von oben, und ruckzuck sind alle Probleme gelöst. Das ist Theatergeschichte II. So ungefähr sieht unser Stoff an der Uni aus.«
Während ich sprach, sah mich Midoris Vater stumm und unverwandt an. An seinen Augen konnte ich natürlich nicht erkennen, ob er überhaupt verstand, wovon ich redete.
»Peace«, sagte ich.
Nach meinem Vortrag hatte ich plötzlich mächtig Hunger. Ich hatte fast nichts gefrühstückt und nur die Hälfte meines Mittagessens verzehrt, was ich bereute, aber das nützte mir nun nichts. Ich suchte in einem Schränkchen nach etwas Eßbarem, fand aber nur eine Dose mit Seetang, Wick-Hustenbonbons und Sojasoße. In der Papiertüte waren noch die Gurken und Grapefruits.
»Ich hab ziemlich Hunger – macht es Ihnen etwas aus, wenn ich etwas von Ihrer Gurke esse?« fragte
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