Naokos Laecheln
einstweilen betreuen würde. Den Vater schien das nicht sonderlich zu berühren. Möglicherweise verstand er auch nicht, was Midori ihm sagte. Er lag nur da und starrte an die Decke. Hätte er nicht ab und zu geblinzelt, hätte man ihn für tot halten können. Seine Augen waren rot gerändert, als wäre er betrunken. Wenn er tief Luft holte, bewegten sich ganz sacht seine Nasenflügel, aber sonst blieb er völlig reglos und machte keine Anstalten, Midori zu antworten. Was in den trüben Tiefen seines Bewußtseins vorging, ließ sich nicht annähernd erahnen.
Als Midori fort war, überlegte ich, ob ich ihren Vater ansprechen sollte, aber da ich nicht wußte wie, schwieg ich schließlich. Bald darauf schloß er die Augen und schlief ein. Ich setzte mich auf den Stuhl am Kopfende und beobachtete das Beben seiner Nasenflügel. Hoffentlich würde er nicht gerade jetzt sterben. Wie seltsam es doch wäre, wenn dieser Mann seinen letzten Atemzug täte, während ich an seiner Seite saß. Immerhin war ich ihm erst vor kurzem begegnet, und meine einzige Verbindung zu ihm war Midori, die ich auch nur aus Theatergeschichte II kannte.
Aber er starb nicht. Er schlief nur ganz fest. Wenn ich mein Ohr seinem Gesicht näherte, hörte ich seine schwachen Atemzüge. So konnte ich mich in aller Ruhe mit der Frau des Nachbarn unterhalten, die Midori anscheinend für meine Freundin hielt und unentwegt nur von ihr sprach.
»Sie ist so ein gutes Kind«, schwärmte sie. »Sie kümmert sich so liebevoll um ihren Vater, sie ist so zärtlich, so fürsorglich, so zuverlässig und obendrein noch hübsch. Sie müssen sehr gut zu ihr sein. Lassen Sie sie nicht entwischen. So ein Mädchen finden Sie nie wieder.«
»Ich merk’s mir«, antwortete ich unverbindlich.
»Unsere Tochter ist einundzwanzig und unser Sohn siebzehn, aber glauben Sie, die würden sich einmal im Krankenhaus blicken lassen? Kaum haben sie Ferien, gehen sie surfen, treiben sich mit ihren Freunden herum oder amüsieren sich sonstwie. Schrecklich. Sie quetschen das Taschengeld aus mir heraus, und weg sind sie.«
Um halb zwei verließ die Dame das Zimmer, um Einkäufe zu machen. Beide Patienten schliefen fest. Die milde Nachmittagssonne schien ins Zimmer, und fast wäre ich auf meinem Hocker selbst eingeschlafen. Auf dem Tisch am Fenster stand eine Vase mit weißen und gelben Astern, die den nahenden Herbst ankündigten. Im Zimmer schwebte noch der süßliche Geruch des Kochfischs, der unberührt geblieben war. Die Krankenschwestern klapperten weiter den Flur auf und ab und riefen einander mit lauten, klaren Stimmen Anweisungen zu. Mitunter warf eine von ihnen einen Blick ins Zimmer, lächelte mir zu und verschwand, wenn sie sah, daß beide Patienten ruhig schliefen. Ich hätte gern etwas zu lesen gehabt, aber im Krankenzimmer gab es keine Bücher und Zeitschriften, nicht mal eine Zeitung. Nur ein Kalender hing an der Wand.
Ich dachte an Naoko. An Naoko nackt, nur mit ihrer Haarspange. Ich dachte an den Schwung ihrer Hüften und den Schatten ihres Schamhaars. Warum nur hatte sie sich mir nackt gezeigt – war sie da schlafgewandelt? Oder hatte alles nur in meiner Phantasie stattgefunden? Je mehr Zeit verging und je mehr sich Naokos kleine Welt von mir entfernte, desto weniger war ich mir sicher, ob die Ereignisse jener Nacht real gewesen waren. Daß sie real gewesen waren, erschien mir ebenso plausibel wie die Möglichkeit, daß es sich um ein Gespinst meiner Phantasie gehandelt hatte. Naokos Körper im Mondlicht – für ein Phantasiegebilde hatte er zu deutlich und detailliert gewirkt, für die Wirklichkeit wiederum zu traumhaft.
Das Husten von Midoris Vater, der plötzlich aufgewacht war, riß mich aus meinen Tagträumen. Ich ließ ihn in ein Taschentuch spucken und wischte ihm mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn.
»Möchten Sie ein bißchen Wasser?« fragte ich, worauf er ein Nicken von etwa vier Millimetern zustande brachte. Als ich ihn winzige Schlucke aus der kleinen Wasserflasche nehmen ließ, zitterten seine trockenen Lippen, und seine Kehle bewegte sich krampfhaft, aber er trank das gesamte, anscheinend lauwarme Wasser, das in der Flasche war.
»Möchten Sie noch mehr?« fragte ich. Ich brachte mein Ohr an seinen Mund, denn er schien etwas sagen zu wollen.
»Nein, danke«, hauchte er, noch leiser und rauher als zuvor.
»Wie wäre es mit etwas zu essen? Sie müssen doch Hunger haben.« Wieder ein kaum merkliches Nicken. Wie ich es mir bei Midori
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