Naokos Laecheln
schmeckt.«
»Ich glaube, du hast einen beruhigenden Einfluß auf andere Menschen.«
»Bestimmt nicht«, erwiderte ich lachend. »Da würde dir so mancher widersprechen.«
»Wie findest du meinen Vater?«
»Er ist mir sympathisch. Natürlich haben wir uns nicht groß unterhalten, aber ich mag ihn irgendwie.«
»Hat er sich ruhig verhalten?«
»Ganz ruhig.«
»Vor einer Woche war er noch schrecklich«, sagte Midori kopfschüttelnd. »Er ist durchgedreht, hat ein Glas nach mir geworfen und geschrien, hoffentlich bist du bald tot, du Hexe. Bei dieser Krankheit passiert das manchmal. Man weiß nicht warum, aber die Patienten können plötzlich bösartig werden. Bei meiner Mutter war das auch so. Weißt du, was sie einmal zu mir gesagt hat? ›Du bist nicht meine Tochter, ich hasse dich.‹ Mir wurde einen Augenblick lang schwarz vor Augen, obwohl ich wußte, daß das ein Symptom dieser Krankheit ist. Die Patienten werden aggressiv und sagen die gemeinsten Sachen, weil irgendwas auf einen bestimmten Teil ihres Gehirns drückt. Trotzdem tut so was weh. Ist ja auch kein Wunder. Ich rackere mich hier ab, und sie werfen mir Gemeinheiten an den Kopf.«
»Das kann ich gut nachvollziehen«, sagte ich. Da fielen mir die unverständlichen Äußerungen von Midoris Vater wieder ein.
»Fahrkarte? Ueno?« Midori überlegte. »Was das wohl zu bedeuten hat? Keine Ahnung.«
»Dann sagte er noch ›bitte‹ und ›Midori‹.«
»Vielleicht sollte es heißen, ›bitte kümmere dich um Midori‹.«
»Oder er möchte, daß du am Bahnhof Ueno eine Fahrkarte kaufst. Die Reihenfolge der vier Wörter ist so beliebig, daß man fast alles daraus lesen kann. Verbindest du irgend etwas mit dem Bahnhof Ueno?«
»Ueno…« Midori dachte eine Weile nach. »Dazu fällt mir nur ein, daß ich zweimal von zu Hause abgehauen bin, in der dritten und in der fünften Klasse. Beide Male bin ich mit dem Zug von Ueno nach Fukushima gefahren. Das Geld dafür hatte ich aus der Kasse geklaut. Ich war wegen irgendwas sauer und wollte mich rächen. In Fukushima wohnte eine Tante von mir, die ich sehr mochte. Zu der bin ich gefahren. Mein Vater hat mich wieder abgeholt, ist eigens nach Fukushima gekommen. Im Zug zurück nach Ueno haben wir unseren Reiseproviant gefuttert, und mein Vater hat mir von allem möglichen erzählt – vom Großen Kantō-Erdbeben 1923, vom Krieg, von der Zeit, als ich geboren wurde – von Dingen, über die er normalerweise nicht sprach. Wenn ich’s mir recht überlege, waren das die beiden einzigen Male, bei denen mein Vater und ich uns einmal länger allein unterhalten haben. Mein Vater ist während des Großen Kantō-Bebens mitten durch Tōkyō geradelt und hat nichts davon gemerkt. Kannst du dir das vorstellen?«
»Unmöglich«, sagte ich.
»Doch, das stimmt. Er ist mit Fahrrad und Anhänger durch Koishikawa gefahren und hat nichts gespürt. Als er zu Hause ankam, waren alle Ziegel von den Dächern gefallen, und die ganze Familie klammerte sich noch mit klappernden Zähnen an irgendwelche Pfosten. Er kapiert immer noch nicht, was passiert ist, und fragt: ›Was ist denn hier los?‹ Das sind die Erinnerungen meines Vaters an das Große Erdbeben.« Midori lachte. »Alle alten Geschichten von meinem Vater haben diesen Tenor. Kein bißchen Dramatik, nur etwas schräg. Wenn man ihn reden hört, könnte man meinen, in den letzten fünfzig oder sechzig Jahren hat sich in Japan nichts von Bedeutung ereignet. Man kriegt das Gefühl, der Aufstand der jungen Offiziere von 1936 und sogar der Pazifikkrieg waren läppische Nebensächlichkeiten. Komisch, was?
Auf unserer Rückfahrt von Fukushima nach Ueno erzählte er mir lauter solche Geschichten, eine nach der anderen. Und am Schluß sagte er jedesmal: ›Siehst du, Midori, es ist überall das gleiche.‹ Als Kind hat mich das ziemlich überzeugt.«
»War das deine Erinnerung an Ueno?«
»Ja. Bist du auch mal von zu Hause weggelaufen?«
»Nie.«
»Warum nicht?«
»Ich bin einfach nicht auf die Idee gekommen.«
»Du bist wirklich merkwürdig.« Midori legte sichtlich erstaunt den Kopf schief.
»Kann sein.«
»Ich glaube, mein Vater wollte dich bitten, auf mich aufzupassen.«
»Meinst du?«
»Ja. Ich erfasse solche Dinge intuitiv. Was hast du ihm denn geantwortet?«
»Ich hab ihn ja nicht verstanden, also habe ich gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, ich würde mich um dich und die Fahrkarte kümmern.«
»Das hast du meinem Vater versprochen? Daß du dich um mich
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