Naokos Laecheln
ich sie aß, wollte er auch eine. Fünf Tage später ist er jedoch gestorben. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an das leise Krachen, mit dem er die Gurke gegessen hat. Die Menschen lassen seltsame kleine Erinnerungen zurück, wenn sie sterben.
Wenn ich morgens aufwache und noch im Bett liege, denke ich an Reiko und Dich im Vogelhaus. An den Pfau, die Tauben, den Papagei, den Truthahn und auch an die Kaninchen. Und ich erinnere mich an die gelben Regencapes mit den Kapuzen, die Ihr am Morgen meiner Abreise getragen habt. Ich fühle mich sehr wohl, wenn ich in meinem warmen Bett liege und von Dir träume. Als würdest Du zusammengerollt neben mir schlafen. Ich fände es schön, wenn das wahr wäre.
Manchmal fühle ich mich schrecklich einsam, aber meistens bin ich ganz munter. So wie Du jeden Morgen die Vögel versorgst und auf dem Feld arbeitest, ziehe ich jeden Morgen meine Feder auf. Bis ich aus dem Bett gesprungen bin, mir die Zähne geputzt, mich rasiert, mich angezogen habe, gefrühstückt, das Wohnheim verlassen habe und an der Uni angekommen bin, habe ich meinen Schlüssel zum Aufziehen ungefähr sechsunddreißigmal gedreht. Heute wird wieder ein guter Tag, sage ich mir. Ich habe es selbst noch nicht bemerkt, aber angeblich rede ich in letzter Zeit viel mit mir selbst. Wahrscheinlich murmele ich vor mich hin, wenn ich die Feder aufziehe. Daß wir uns nicht sehen können, ist schwer für mich. Allerdings wäre mein Leben hier in T ō ky ō viel trister, wenn es Dich gar nicht gäbe. Nur meine Gedanken an Dich halten mich aufrecht und helfen mir über den Alltag hinweg. Ich muß eben hier mein Bestes geben, so wie Du dort Dein Bestes tust.
Aber heute ist Sonntag, ein Morgen, an dem ich meine Feder nicht aufziehe. Ich habe meine Wäsche gewaschen, und nun schreibe ich auf meinem Zimmer diesen Brief an Dich. Wenn ich ihn zu Ende geschrieben, frankiert und zum Briefkasten gebracht habe, bleibt mir bis zum Abend nichts zu tun. Sonntags lerne ich auch nicht. Ich arbeite in der Woche zwischen den Vorlesungen immer in der Bibliothek und brauche darum sonntags nichts zu tun. Meine Sonntagnachmittage sind ruhig, friedlich und auch einsam. Ich lese oder höre Musik. Ab und zu denke ich an die Routen, auf denen wir beide früher immer sonntags T ō ky ō durchquert haben. Ich erinnere mich ganz deutlich an jedes Kleidungsstück, das du damals getragen hast. Sonntagnachmittags gehen mir immer viele Erinnerungen durch den Kopf.
Grüß Reiko von mir. Besonders abends vermisse ich ihre Gitarre.«
Nachdem ich den Brief beendet und ihn in den Briefkasten geworfen hatte, der etwa zweihundert Meter entfernt stand, kaufte ich mir in einer Bäckerei in der Nähe ein Sandwich mit Ei und eine Cola, setzte mich damit auf eine Parkbank und aß zu Mittag. Um Zeit totzuschlagen, beobachtete ich im Park eine Jugendmannschaft beim Baseball. Mit fortschreitendem Herbst hatte der Himmel eine tiefblaue Farbe angenommen, und er wirkte irgendwie höher. Als ich einmal zufällig hinaufblickte, sah ich zwei Kondensstreifen, die exakt parallel wie Straßenbahnschienen in westliche Richtung verliefen. Ich warf einen Ball, der in meine Nähe gerollt kam, zurück, und die Kinder zogen artig ihre Mützen und bedankten sich bei mir.
Am Nachmittag kehrte ich in mein Zimmer zurück, um zu lesen, aber statt mich auf mein Buch zu konzentrieren, starrte ich an die Decke und dachte an Midori. Was, wenn ihr Vater mich tatsächlich gebeten hatte, mich um sie zu kümmern? Aber natürlich konnte ich nicht wissen, was er wirklich gemeint hatte. Wahrscheinlich hatte er mich mit jemandem verwechselt. Nun war er an jenem Freitagmorgen, als der kalte Regen fiel, gestorben, und ich würde die Wahrheit nie erfahren. Ob er im Tod wohl noch mehr zusammengeschrumpft war? Es spielte keine Rolle mehr, denn man hatte ihn verbrannt, und er war zu Asche geworden. Viel hinterlassen hatte er auch nicht: einen mickrigen Buchladen in einer mickrigen Einkaufsstraße und zwei Töchter, von denen zumindest die eine etwas merkwürdig war. Was hatte er überhaupt für ein Leben geführt? Was hatte er gedacht, als er dort mit aufgeschnittenem Schädel in seinem Krankenhausbett lag und mich ansah?
Diese Gedanken über Midoris Vater versetzten mich in eine dermaßen elende Stimmung, daß ich die Wäsche vorzeitig vom Dach holte und nach Shinjuku fuhr, um mir dort mit einem Bummel die Zeit zu vertreiben. Das sonntägliche Gewimmel erleichterte mich ein wenig. In der Buchhandlung
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