Naokos Laecheln
Schultern im Rhythmus ihrer regelmäßigen Atemzüge. Sie war eingeschlafen. Behutsam schlüpfte ich aus dem Bett und ging in die Küche, um ein Bier zu trinken. Ich war noch überhaupt nicht müde und hätte gern gelesen, konnte aber nichts Lesenswertes entdecken. Die Idee, auf dem Bücherregal in Midoris Zimmer nach einem Buch zu suchen, verwarf ich; ich fürchtete, sie aufzuwecken.
Nachdem ich eine Weile unentschlossen mit meinem Bier herumgesessen hatte, fiel mir ein, daß ich mich ja in einer Buchhandlung befand. Ich ging nach unten, schaltete das Licht ein und durchforstete die Regale mit den Taschenbüchern. Es gab nicht viel, das ich gern gelesen hätte, und das meiste davon kannte ich ohnehin schon. Aber weil ich unbedingt etwas lesen wollte, entschied ich mich für ein ausgeblichenes Exemplar von Hermann Hesses Unterm Rad, ein Ladenhüter offenbar, und legte das Geld dafür neben die Kasse. Es sollte mein kleiner Beitrag zur Auflösung der Buchhandlung Kobayashi sein.
Ich setzte mich mit einem Bier an den Küchentisch und schlug Unterm Rad auf, das ich zum ersten Mal in der siebten Klasse gelesen hatte. Und nun, acht Jahre später, saß ich mitten in der Nacht in der Küche eines Mädchens, im Pyjama ihres toten Vaters, und las es wieder. Eigenartig. Ohne diese besonderen Umstände hätte ich Unterm Rad wahrscheinlich nie wieder gelesen.
Das Buch erschien mir ein bißchen überholt, aber es war kein schlechter Roman. Langsam, mit Genuß, las ich Zeile für Zeile in der nächtlichen Stille der Küche. Auf einem Regal stand eine verstaubte Brandyflasche, aus der ich mir in einer Kaffeetasse einen Schluck genehmigte. Der Brandy wärmte mich, aber auch der Alkohol verhalf mir nicht zur nötigen Bettschwere. Kurz vor drei sah ich nach Midori, die wirklich sehr erschöpft gewesen sein mußte, denn sie schlief ganz fest. Die Lichter der Einkaufsstraße warfen ein mildes, weißes, mondscheinartiges Licht durch das Fenster ins Zimmer. Midori schlief mit dem Rücken zum Licht. Sie lag vollkommen reglos da, als wäre sie zu Eis erstarrt. Ich beugte mich über sie und lauschte ihrem Atem. Sie schlief wie ihr Vater.
Neben dem Bett stand noch ihr Koffer, und ihr heller Mantel hing über der Stuhllehne. An der Wand über ihrem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch hing ein Snoopy-Kalender. Ich zog den Vorhang ein wenig beiseite und sah hinunter auf die menschenleeren Geschäfte. Alle waren geschlossen, die Metallrolläden heruntergelassen. Nur die Getränkeautomaten vor dem Spirituosengeschäft schienen geduckt und dicht aneinandergedrängt den nahenden Morgen zu erwarten. Das durchdringende Rauschen der Reifen von Fernlastern auf der nahegelegenen Schnellstraße brachte ab und zu die Luft zum Vibrieren. Ich kehrte in die Küche zurück, schenkte mir noch einen Brandy ein und las weiter in Unterm Rad.
Als ich das Buch fertig hatte, wurde der Himmel schon hell. Ich machte mir eine Tasse Instantkaffee und hinterließ auf einem Block, der auf dem Tisch lag, eine Nachricht für Midori. »Ich habe von eurem Brandy getrunken und ein Exemplar von Unterm Rad gekauft. Inzwischen wird es hell, und ich fahre heim. Bis bald.« Nach einigem Zögern fügte ich hinzu: »Du siehst sehr niedlich aus, wenn du schläfst.« Dann wusch ich meine Kaffeetasse ab, löschte das Licht in der Küche, ging die Treppe hinunter, schob ganz leise den Rolladen hoch und trat ins Freie. Ich fürchtete, einer der Nachbarn könnte mich sehen und für einen Einbrecher halten, aber morgens kurz vor sechs war noch niemand auf der Straße. Nur die Krähen saßen auf ihrem üblichen Posten auf dem Dach. Nachdem ich noch einmal einen Blick hinauf zu den rosa Gardinen von Midoris Zimmer geworfen hatte, machte ich mich zur Straßenbahnhaltestelle auf, fuhr bis zur Endstation und ging von dort zu Fuß zum Wohnheim. Unterwegs nahm ich in einer Garküche ein Frühstück aus Reis, Misosuppe, eingelegtem Gemüse und Spiegeleiern zu mir. Ich schlich mich zur Rückseite des Wohnheims und klopfte leise an Nagasawas Fenster, das im Erdgeschoß lag. Er machte sofort auf, und ich kletterte zu ihm ins Zimmer.
»Willst du einen Kaffee?« fragte er. Ich lehnte ab, bedankte mich bei ihm und ging in mein Zimmer, putzte mir die Zähne, zog meine Hose aus, kroch unter die Decke und schloß die Augen. Endlich überkam mich ein tiefer traumloser Schlaf, der wie eine schwere Bleitür die Welt ausschloß.
Ich schrieb Naoko jede Woche und erhielt auch häufig Briefe von ihr, die
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