Naokos Laecheln
denen alle riefen, schienen schon hinter der nächsten Ecke zu warten. Doch für mich waren all diese Ereignisse nichts weiter als bedeutungslose Projektionen ohne Substanz. Ich hob kaum den Kopf und schleppte mich von einem Tag zum nächsten. Auf meiner Netzhaut zeichnete sich nur die Endlosigkeit des Morastes ab. Ich hob den rechten Fuß, setzte ihn vor den linken, hob den linken, und immer so weiter, einen Fuß vor den anderen. Dabei war ich nicht einmal sicher, wo ich mich befand und ob ich überhaupt die richtige Richtung eingeschlagen hatte. Ich arbeitete mich nur einfach voran, indem ich einen Schritt vor den anderen setzte.
Ich wurde zwanzig, der Herbst wurde vom Winter abgelöst, aber in meinem Leben ergaben sich keine nennenswerten Veränderungen. Voll Desinteresse besuchte ich meine Vorlesungen, arbeitete dreimal in der Woche im Plattenladen, las hin und wieder Der große Gatsby, erledigte sonntags meine Wäsche und schrieb an Naoko. Mitunter traf ich mich mit Midori zum Essen, zu einem Zoo- oder Kinobesuch. Der Verkauf der Buchhandlung Kobayashi ging reibungslos vonstatten, und Midori und ihre Schwester zogen in ein Zweizimmerapartment in der Gegend von Myōgadani. Nach der Hochzeit ihrer Schwester beabsichtigte Midori, in ein eigenes Apartment zu ziehen. Einmal lud sie mich zum Mittagessen in ihre schöne, sonnige neue Wohnung ein, in der sich Midori viel wohler zu fühlen schien als in der alten über der Buchhandlung Kobayashi.
Mehrmals forderte mich Nagasawa zu einer unserer Kneipentouren auf, aber ich schützte jedesmal etwas vor. Es war mir lästig geworden. Nicht, daß ich nicht mehr gern mit einem Mädchen geschlafen hätte, aber der ganze Aufwand – abends in die Stadt zu fahren, mich zu betrinken, passende Mädchen zu finden, ein Gespräch zu beginnen, in ein Hotel zu gehen – war mir zuviel. Ich empfand fast schon Respekt vor Nagasawa, der dieses Ritual anscheinend ohne Überdruß und Ekel unermüdlich wiederholen konnte. Vielleicht lag es an dem, was Hatsumi zu mir gesagt hatte, aber ich fühlte mich viel glücklicher, wenn ich in meinen Träumen mit Naoko zusammen war, statt wahllos mit irgendeinem langweiligen fremden Mädchen ins Bett zu gehen. Das Gefühl, wie sich Naokos Finger damals auf der Wiese um meinen Penis geschlossen hatten, war noch ganz lebendig in mir.
Anfang Dezember fragte ich Naoko in einem Brief, ob es ihr recht sei, wenn ich sie in den Winterferien besuchte. Reiko antwortete, daß sie sich unheimlich freuen würden. Naoko habe momentan Schwierigkeiten zu schreiben, also habe sie diese Aufgabe übernommen. Ich solle mir jedoch keine Sorgen machen, denn es handle sich nur um eine Phase, in der es Naoko eben nicht gut ginge.
Die Ferien hatten kaum begonnen, als ich auch schon meinen Rucksack packte, Schneestiefel anzog und mich auf den Weg nach Kyotō machte. Der schrullige Arzt hatte recht gehabt, die schneebedeckten Berge waren von wunderbarer Schönheit. Wie beim ersten Mal übernachtete ich in Naokos und Reikos Wohnung, wobei die drei Tage meines Besuchs sich kaum von jenen unterschieden, die ich im Spätsommer dort verbracht hatte. Nach Sonnenuntergang spielte Reiko Gitarre, und wir unterhielten uns. Anstelle eines Picknicks machten wir einen Ausflug auf Langlaufskiern, bei dem wir nach einer Stunde Fahrt durch den Wald verschwitzt und außer Atem waren. Wann immer es sich ergab, halfen wir den anderen beim Schneeschippen. Einmal leistete uns Doktor Miyata im Speisesaal beim Essen Gesellschaft, um zu erklären, warum der Mittelfinger beim Menschen länger sei als die übrigen Finger, während es sich bei den Zehen umgekehrt verhalte. Wachmann Ōmura schwärmte mir wieder etwas vom Schweinefleisch in Tōkyō vor. Mit den Schallplatten, die ich Reiko als Geschenk aus Tōkyō mitgebracht hatte, schien ich ihr eine große Freude zu machen. Sie übertrug die Noten einiger Stücke auf Papier und spielte sie auf der Gitarre nach.
Naoko war noch schweigsamer als bei meinem Besuch im Herbst. Wenn wir drei zusammen waren, saß sie, fast ohne ein Wort zu sagen, mit einem freundlichen Lächeln auf dem Sofa. Dafür war Reiko besonders gesprächig. »Aber mach dir keine Sorgen«, sagte Naoko. »Es ist nur so eine Phase, in der es mir mehr Spaß macht, euch zuzuhören, als selbst zu reden.«
Als Reiko einmal die Wohnung verließ, um Erledigungen zu machen, gingen Naoko und ich ins Bett. Ich küßte sanft ihren Hals, ihre Schultern und ihre Brüste, während Naoko mich wie beim
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