Naokos Laecheln
verbringen. Nagasawa war das ziemlich egal, denn so ein paar Hausregeln kümmerten ihn ohnehin nicht. Wenn ihm danach war, holte er sich die Genehmigung, auswärts zu übernachten, und ging auf die Pirsch oder verbrachte die Nacht in der Wohnung seiner Freundin. Normalerweise war es gar nicht so einfach, diese Genehmigungen zu bekommen, aber Nagasawa war gleichsam darauf abonniert. Und wenn er sie für mich anforderte, bekam ich sie ebenfalls anstandslos.
Seit seinem ersten Semester hatte Nagasawa eine feste Freundin. Sie hieß Hatsumi und war so alt wie er. Ich war ihr einige Male begegnet und fand sie ausgesprochen sympathisch. Sie war nicht gerade das, was man eine atemberaubende Schönheit nennt, und anfangs hatte ich mich sogar gewundert, daß ein Mann wie Nagasawa mit einem so durchschnittlich aussehenden Mädchen zusammen war. Aber jeder Mensch, der mit Hatsumi auch nur kurz in Berührung kam, mußte sie einfach gern haben. Sie war zurückhaltend, intelligent, humorvoll, fürsorglich und immer elegant gekleidet. Hätte ich eine Freundin wie sie gehabt, wäre ich bestimmt nicht mit all den anderen langweiligen Frauen ins Bett gestiegen. Hatsumi mochte mich auch und war stets eifrig bemüht, mich mit Studentinnen ihres Jahrgangs zu verkuppeln, damit wir zu viert ausgehen konnten, aber ich wollte meine Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht wiederholen und lehnte immer ab. Hatsumi studierte an einer sehr angesehenen Frauenuniversität, auf der es von Mädchen aus den reichsten Häusern nur so wimmelte, einer Sorte, mit der ich von jeher nichts anfangen konnte.
Obwohl Hatsumi ziemlich genau über Nagasawas Treiben Bescheid wußte, beschwerte sie sich nie. Sie liebte ihn wirklich, drängte sich ihm aber niemals auf.
»Sie ist viel zu schade für mich«, sagte Nagasawa einmal zu mir. Stimmt, dachte ich.
Im Winter fand ich einen Job in einem kleinen Plattenladen in Shinjuku. Die Bezahlung war mäßig, aber dafür überarbeitete ich mich auch nicht an den drei Abenden in der Woche, an denen ich im Laden stand. Außerdem bekam ich die Schallplatten billiger. Zu Weihnachten kaufte ich Naoko eine Henry-Mancini-Platte mit My Heart, ihrem Lieblingsstück, die ich eigenhändig in Geschenkpapier wickelte und mit einer roten Schleife schmückte. Naoko schenkte mir ein Paar selbstgestrickte Handschuhe. Die Daumen waren ein bißchen kurz, aber die Handschuhe wärmten.
»Ach, wie dumm«, sagte sie und errötete. »Was bin ich ungeschickt!«
»Wieso? Sie passen doch.« Ich hob die behandschuhten Hände in die Höhe, um es ihr zu beweisen.
»Zumindest mußt du die Hände jetzt nicht mehr in die Manteltaschen stecken.«
Naoko fuhr in diesem Winter nicht zu ihrer Familie nach Kōbe. Ich arbeitete bis zum Jahresende im Plattenladen und blieb schließlich auch ganz in Tōkyō, da in Kōbe nichts und niemand von Interesse auf mich wartete. Während der Feiertage war die Wohnheimkantine geschlossen, und ich aß bei Naoko. Zu Neujahr gab es die traditionellen Klößchen und Neujahrssuppe wie bei allen anderen auch.
Im Januar und Februar 1969 passierte eine Menge.
Ende Januar legte sich Sturmbandführer mit hohem Fieber ins Bett, weshalb ich Naoko versetzen mußte. Es hatte mir viel Mühe bereitet, Freikarten für ein Konzert zu ergattern, auf das sich Naoko besonders gefreut hatte, weil das Orchester eines ihrer Lieblingsstücke, die vierte Symphonie von Brahms, gab. Doch Sturmbandführer wälzte sich so gepeinigt auf dem Bett herum, als sei er dem Tode nahe; ich konnte ihn einfach nicht allein lassen und fand auch keine mitleidige Seele, die seine Pflege an meiner Stelle übernommen hätte. Ich besorgte Eis und fertigte mit Hilfe von Plastiktüten Eisbeutel an, kühlte Handtücher und wischte ihm den Schweiß ab, maß jede Stunde seine Temperatur und wechselte ihm sogar das Hemd. Trotzdem ging das Fieber einen Tag lang nicht runter. Doch am Morgen des zweiten Tages sprang er aus dem Bett und begann mit seiner Morgengymnastik, als wäre nichts geschehen. Seine Temperatur betrug 36,2. Ich fragte mich, ob er wirklich ein menschliches Wesen war.
»Komisch! Ich hab noch nie Fieber gehabt«, erklärte Sturmbandführer in vorwurfsvollem Ton.
»Du hattest aber welches«, fuhr ich ihn ärgerlich an und hielt ihm die beiden verfallenen Konzertkarten unter die Nase.
»Ein Glück, daß es Freikarten waren«, sagte Sturmbandführer ungerührt. Am liebsten hätte ich mir sein Radio geschnappt und es aus dem Fenster geworfen, zog mich
Weitere Kostenlose Bücher